Popsängerin Anne-Marie: "Man muss die Liebe in sich spüren"

Mit "Psycho" und "Sad Bitch" hat Anne-Marie bereits zwei erfolgreiche Vorab-Singles veröffentlicht, gemeinsam mit David Guetta hat sie mit "Baby Don’t Hurt Me" gute Chancen auf den Sommerhit 2023.

Seit zehn Jahren ist Anne-Marie Nicholson eine fixe Größe in der britischen Pop-Szene. Sie hat massive Dance-Hits mit Bands wie Rudimental und Clean Bandit gesungen, ist spätestens seit ihrem Solo-Hit "Ciao Adios" von 2017 aus unseren Pop-Charts nicht mehr wegzudenken und ist auch live eine absolute Naturgewalt.

Im Gespräch mit der erweist sich die mittlerweile 32-Jährige aus Essex als charmante und ausgesprochen humorvolle Unterhalterin ohne Star-Allüren. Anne-Marie spricht offen über Bühnenangst und ausgeschlagene Zähne, "ungesunde" Dinge, die sie liebt, den mühsamen Weg sich selbst zu akzeptieren und den Zwang abzulegen, perfekt sein zu wollen – vor allem, was ihr oft diskutiertes Gewicht betrifft. Auch über ihre Liebe zum Wilden Westen, der sie mit Country-Legende Shania Twain im titelgebenden Song "Unhealthy" gefrönt hat.

Sie machen sich sehr gut als Cowgirl. Darf man jetzt Annie zu Ihnen sagen?
Anne-Marie: Haha, wie "Annie get your gun!"? Aber ja, es macht doch richtig Spaß ein Western-Girl zu sein.
Wie kamen Sie auf die Idee einen Country-Song zu produzieren?
Ich mag so viele Genres, Rock, Pop, Electronic, Dance – und ich hab alles schon gemacht, oft gemeinsam mit anderen Musikern oder in Bands wie Rudimental. Ich wollte etwas in Richtung Country machen, weil das hab ich noch nie, und ich fand es schon als kleines Mädchen faszinierend. Aber ich bin halt nun mal aus Tilbury, einem Dorf östlich von London – das ist ein weiter Weg bis in den Wilden Westen.
Und wie kamen Sie dann mit Shania Twain zusammen, einer Country-Legende mit unzähligen Preisen und Grammys?
Ach, das war doch nichts Besonderes ... (lacht) Nein, es war absolut aufregend! Shania ist einfach unglaublich, und ich konnte es wirklich fast nicht glauben, als es klappte. Ich hab meinen ganzen Mut zusammengenommen und sie einfach angerufen. Und sie hat zugesagt! Sie war dann zufällig für einen Tag in London, machte einen Zwischenstopp, und ich hab also meinen Song eingepackt und bin zu ihr ins Studio. Es war richtig aufregend. Und wir hatten eine echt gute Zeit.
Dieser Song hat den Titel "Unhealthy". Um welche ungesunden Themen geht's dabei?
Eigentlich alles, was mich direkt betrifft. Also ursprünglich ging es nur ums Essen, aber dann auch um meine Besessenheit mit TV-Serien und Lego und Puzzles, das ist bei mir fast schon eine Sucht! Also irgendwie auch ungesund – und nicht tierisch ernst zu nehmen.
Sie sind ein TV-Junkie? Was schauen Sie gerne?
Ach, praktisch alles, wenn ich einmal anfange. Netflixserien natürlich, aber auch unglaublich viele Shows, von Castingshows bis Big Brother, da gibt’s kein Halten. Ich hatte vor zwei Jahren das Glück, gemeinsam mit Sir Tom Jones und will.I.am in der Jury von "The Voice UK" zu sitzen. Das war beinahe wie ein Traum für mich!
Wird man in Zukunft mehr von Country- Annie hören?
Das weiß ich noch nicht. Wie gesagt, mir gefallen fast alle musikalischen Genres, und ich will mich nicht wirklich festlegen. Sie kennen "Haunt You" von meinem neuen Album?
Ja, ein astreiner, wirklich lässiger Poprock-Song.
Ha, danke! Ja, und als ich den geschrieben hatte, es war der erste fürs Album, da war ich überzeugt: So soll die ganze Platte werden, ich mache eine echte Rockscheibe! Und als ich dann die restlichen Songs fertig hatte, dachte ich mir erstaunt: Oh, doch nicht! (lacht) Aber so bin ich nun einmal, ich brauche Abwechslung.
Für Abwechslung ist auf "Unhealthy" gesorgt, "Cuckoo" zum Beispiel hätte das Zeug zum Sommerhit, wenn er rechtzeitig als Single rauskommt. Dann könnten Sie sich selbst Konkurrenz machen. Ihr Track "Baby Don’t Hurt Me" mit David Guetta gilt ja als einer der Favoriten für 2023.
Ja stimmt, daran hab ich noch gar nicht gedacht, was mach ich nur? (lacht) Aber nein, Sie haben Recht, "Cuckoo" muss als Nächstes raus, ich liebe den Song. Und ja, er passt zum Sommer.
Ihre Balladen sind wohltuend "unbombastisch", wirken sehr intim ...
Ich liebe es, Balladen zu schreiben. Und ich mag es, kleine, ungewöhnliche Details einzubauen, nicht so sehr eine riesige Soundwand. Und wenn's um Liebe geht, dann muss schon auch ein wenig Schmerz dabei sein. Da halte ich es wie bei allen Themen: Ich schreibe nur über Dinge, die ich selbst erlebt habe.
Wer war der Kerl, der Sie so verletzt hat, dass Sie diese wunderbaren traurigen Balladen fürs neue Album schreiben mussten?
(lacht) Es geht in den Songs nicht um EINE bestimmte Person, da drin sind praktisch alle meine Ex – zu Momentaufnahmen verdichtet.
Sie haben einmal darüber gesprochen, was "perfekt" für Sie bedeutet. Wie Sie als Kind Karate lernten und unbedingt gewinnen wollten und als Teenager versuchten, so dünn wie möglich zu sein, bis Sie zu einem Punkt kamen, an dem Sie meinten: Anders zu sein ist auch eine Art von perfekt. Wo stehen Sie heute?
Oh, ich habe viel gelernt in dieser Beziehung. Durch die Lektionen, die einen das Leben lehrt, durchs Älterwerden, durch die Therapie, die ich machte. Ich glaube, nach all dem, was ich bisher gelernt habe, eines der wichtigsten Dinge, die einem ermöglichen, glücklich zu sein, ist es, sich weniger um diese vielen unwichtigen Dinge zu kümmern, die ständig auf einen einprasseln. Man glaubt ja immer, man muss sich um alles kümmern, alles lösen, gerade biegen – aber nein, das muss man nicht, kann man auch gar nicht. Seit ich das eingesehen habe, fühle ich mich freier.
Sie waren in Therapie?
Ja, es ist eine lange und sehr schwierige Reise, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Freunde und alle möglichen Bestseller-Ratgeber sagen einem dann immer wieder „Liebe dich selbst, du musst dich selbst lieben, um andere lieben zu können“, aber das ist eben nicht so leicht getan, wie’s gesagt ist. Weil man muss diese Liebe wirklich in sich spüren. Aber es ist wichtig, wir alle sollten das.
Die Therapie hat Ihnen dabei geholfen?
Ja, definitiv. Sie hat mir geholfen, einige Narben zu heilen und vor allem zu erkennen, dass egal, wie sehr ich kämpfe und mich anstrenge, das Leben nie NUR fantastisch sein wird. Denn das ist es ja, was uns alle ständig frustriert, weil wir das immer glauben, dass alles ständig so super sein muss. Das wird uns ja auch überall so vorgespielt. Und ja, sie hat mir geholfen, mich selbst zu akzeptieren, weil es nicht automatisch meine Schuld ist, wenn’s nicht fantastisch ist. Oder etwas zerbricht. Man spürt den Schmerz natürlich trotzdem, aber das Herz bleibt heil.
Darüber haben Sie auch ein Buch geschrieben, das in England bereits auf den Bestsellerlisten gelandet ist: "You deserve better" also "du verdienst was Besseres". Ein, wie der Untertitel sagt, "mangelhafter" Ratgeber auf der Suche nach dem Glück. Werden Sie ein weiteres Buch schreiben?
Ja, "Hört auf nichts, was sie sagt" wird es heißen! (lacht prustend) Nein, zu dem Thema hab ich alles gesagt, was ich weiß. Aber vielleicht mal einen Roman, das fände ich spannend ...
Wir haben vorher kurz Ihre Karate-Vergangenheit angesprochen. Stimmt es, dass Sie Weltmeisterin waren?
Ach, das waren Nachwuchs- und Jugendbewerbe. Aber ja, ich hab recht früh angefangen, ernsthaft Shotokan Karate zu trainieren, und hab dann schon auch ein paar Titel gewonnen. So bin ich, wenn ich was mache, will ich auch gewinnen. Ich habe auch eine Ausbildung, könnte also eine Karate-Schule aufmachen, wenn's mit der Musik nicht mehr läuft. Aber vielleicht mache ich das sowieso, also die Karate-Schule. Fände ich irgendwie cool.

Anne-Marie

©Warner Records/Will Beach
Gewinnen wollten Sie anscheinend auch unbedingt bei den „BBC Dancing Stars“ ...Stimmt, dort hab ich auch gewonnen. Ich musste einfach mitmachen, Sie kennen ja meine Schwäche für TV-Shows. Das ist jetzt fast irgendwie peinlich ...
Nein, gar nicht! Anne-Marie, Sie waren als 11-Jährige bei Karate-Weltmeisterschaften, sind als Kind auch schon in Londoner West-End-Musicals aufgetreten – und wenn man Sie heute auf der Bühne sieht, scheinen Sie in Ihrem natürlichen Element zu sein. Haben Sie je Lampenfieber?Und ob! Es fängt ganz leicht an, nur so ein kleiner Schmetterling, aber das wird zum Auftritt hin immer schlimmer. Bis ich kaum die Kraft habe, diesen letzten, entscheidenden Schritt auf die Bühne zu machen. Da würde ich am liebsten davonlaufen oder mich in Luft auflösen.
Der Moment wenn’s kein Zurück mehr gibt? Als würde man vom 10-Meter-Brett springen – oder von einer Klippe?
Ja, genau so! 
Was tun Sie dagegen?
Ich hab so meine Routinen, versuche, beschäftigt zu bleiben. Ich mache meine Haare selbst, mein Make-up. Und dann setze ich mich mit einem Puzzle in eine Ecke und versuche es zu lösen.
Sie puzzeln vor einem Gig?
Ja, voll langweilig, nicht? Und ich bin so ein Nerd, dass ich es nicht aushalte, wenn ich das Puzzle nicht zu Ende bringe. Ich mache also nach dem Auftritt weiter.
Und dabei vergessen Sie Ihr Lampenfieber?
Na ja, so lange ich mich aufs Puzzle konzentriere schon. Aber ich kann mich ja nicht damit auf die Bühne tragen lassen. Den letzten Schritt muss ich also bei vollem Bewusstsein machen – und dann ist auch die Angst voll da. Aber wirklich nur kurz, für diesen einen schrecklichen Moment. Sobald ich draußen bin und die Leute sehe, die Band, die Bühne unter mir, ist sie wie weggeblasen.
Und nach dem Auftritt geht’s weiter mit dem Puzzle? Gar keine Backstage-Party?
Nein, für mich nicht. Ich bin da noch so hyped, ich mag mich nicht einmal unterhalten. Da brauche ich Ruhe, um wieder runter zu kommen.
Und Sie gehen nicht, bevor Sie damit fertig sind? Was war die längste Zeit, die Sie da nach einem Konzert Backstage gesessen sind?
Oh, Stunden. Sie haben mich am Ende rausgeschmissen! (lacht)
Noch einmal zurück auf die Bühne: Stimmt es, dass Ihnen ein Kollege dort einmal einen Zahn ausgeschlagen hat?
Ja voll. Ich war damals Sängerin bei Rudimental. Und Will Heard, der Singersongwriter, war als Gast auch dabei. Ein großartiger Musiker und Sänger, mit den verrücktesten Tanz-Moves, er ist wirklich einmalig. Na ja, ich stand wohl zu nahe bei ihm und bekam plötzlich sein Mikro, das er in der Hand hielt, mit voller Wucht ins Gesicht.
Live, vor Tausenden von Leuten?
Ja! Und ich dachte nur, wow, ich glaube, er hat mir alle meine Zähne ausgeschlagen! Ich dreh mich also um und renn von der Bühne, schau in den ersten Spiegel, den ich finden kann – und tatsächlich, ein Schneidezahn war komplett weg! Aber zum Glück nur einer ... Na ja, dann bin ich wieder zurück und hab den Gig fertig gesungen, es tat erstaunlicherweise nicht seeehr weh. Irgendwie fand ich die Zahnlücke nach einer Weile sogar cool. Ich glaube, ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich sie endgültig richten ließ ...
Wie alt waren Sie damals?
So 24 wie’s passiert ist. Und seit ich 26 bin, kann ich wieder lachen ... Nein, stimmt nicht, ich hab auch mit Zahnlücke genug gelacht, das können Sie mir glauben.
Das würde ich auf keinen Fall anzweifeln ...
Wow, was für eine Geschichte. Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.
Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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