Der Sommerhit: Alle Jahre wieder

"Despacito“, "Lambada“, "Ketchup Song“ – man liebt sie oder hasst sie, aber was ein richtiger Sommer ist, braucht auch einen veritablen Sommerhit. Nur, wo bleibt er eigentlich heuer? Mit der Hilfe von zwei Experten machte sich die auf Spurensuche.

Jetzt ist doch schon einige Zeit richtig Sommer – aber wo bleibt eigentlich der Hit? Der Song, der uns alle zum Hüftwackeln und Feiern bringt – und dann auch gleich zum Träumen, zum Erinnern: an herrliche Strände, Partys am Meer, an den einen oder anderen Flirt oder die ausgelassene Zeit mit der/dem Liebsten?
Sollen wir uns tatsächlich für Dua Lipas Barbie-Song "Dance The Night“ entscheiden oder einfach für den aktuellen Ed Sheeran? Der hatte vor zwei Jahren mit "Bad Habits“ immerhin den angeblich erfolgreichsten Sommerhit aller Zeiten. Aber irgendwie vermisst man da doch ein wenig den Urlaubsfaktor. Also doch lieber eine spanischsprachige Produktion? Wo bleibt das nächste Despacito, lieber Señor Fonsi?! 
Schon klar, für manche Musikpuristen ist er zwar unnötig wie ein Kropf, aber irgendwie ist es doch ganz einfach so: Ohne passenden Song fehlt dem Sommer ganz einfach was ...

Ein Sommer wie damals

Das waren noch Zeiten: "Macarena“ zum Beispiel, vor 30 Jahren kam der Hadern raus. Da war alles klar, den liebte auf Anhieb die ganze Welt, ein Sommerhit, auf den man sich auch blind einigen konnte. Oder? Ganz so einfach war es damals allerdings auch nicht. Die beiden hoch integren Herren von Los del Rio, tatsächliche Doyens der spanischen Flamenco- und Rumba-Kultur, nahmen 1993 einen  perkussiven Song zu Ehren einer Flamenco-Lehrerin auf, in dem sie sich noch dazu über traditionelle  spanische Macho-Werte, Relikte aus der Frank-Diktatur, lustig machten. Der Song war großartig – blieb außerhalb der Grenzen Spaniens aber  völlig unbeachtet. Erst zwei Jahre später erstellte ein DJ-Duo aus Miami einen Remix mit zusätzlichen englischen Vocals – und der sollte uns schließlich wie eine sommerliche Megawelle überrollen. Allerdings erst im Sommer darauf, nämlich 1996. Es dauerte also satte drei Jahre, bis aus einem – zugegeben richtig lässigen – Song ein globaler Superhit wurde.

Die Mechanismen, die dahinter stecken, wann etwas "funkt“, sind nur schwer berechenbar: "Sonst würde ja jeder Sommerhits schreiben“, sagt Christof Straub, selbst Komponist eines Doppel-Platin-Hits („Tell Me a Poem“) und erfolgreicher Musikproduzent (u. a. Chris Steger). "Was man auf jeden Fall sagen kann: Sommerhit wird nur ein Song, der zu jeder Jahreszeit das Zeug zum Hit hat“, erklärt er weiter.

Alles Eintagsfliegen?

So ein Stück schreibt man nicht einfach so und schon gar nicht vom Fließband. Vielleicht ein Grund, warum wir viele Sommerhit-Interpreten nicht wirklich regelmäßig wiedersehen. Oder wer kann sich heute noch an Lou Bega erinnern? Natürlich können wir das, aber seine Hits nach dem Superohrwurm "Mambo No. 5“ aus dem Jahr 1999 sind dann doch einigermaßen überschaubar.
Die "Einmaligkeit“ mancher Hits mag durchaus auch daran liegen, dass die großen Labels den Sommer eher als „Sommerloch“ behandeln, sprich ihre wichtigen Releases für den Herbst oder gar die Vorweihnachtszeit aufheben. Das lässt Platz für unbekannte Gesichter – und jede Menge Überraschungen. Die französisch-südamerikanisch-afrikanische Band Kaoma etwa, die zehn Jahre vor Lou Bega mit "Lambada“ die uneingeschränkte Herrscherin der sommerlichen Charts war. Und zwar in elf Ländern gleichzeitig. In immerhin sechs Ländern gelang das im Sommer 1985 übrigens auch einer österreichischen Band: Opus mit "Live is Life“. Dass die steirischen Poprocker so einen Hit nie wieder landeten ist klar, sie deshalb als Eintagsfliegen zu bezeichnen, trifft auf sie genau so wenig zu, wie auf die Herren von Los del Rio.

Wenn gerade alle Parameter passen, kann ein nationaler oder vielleicht auch nur regionaler Act also zumindest für einen Sommer lang die ganze Welt zum Tanzen und Träumen bringen – irgendwie ein schöner Gedanke. Das war früher einerseits leichter, als der Fokus aller auf dem oft einzigen Pop-Radiosender eines Landes lag, während die Quellen, aus denen wir heute unsere Musik beziehen, ungleich vielfältiger sind. Internetradios aus aller Welt, Streaminganbieter wie Spotify, Social-Media-Plattformen wie TikTok, YouTube – es gibt quasi keinen Song, der irgendwo produziert wurde oder gerade wird, den wir NICHT anhören können. Wenn wir ihn denn finden oder besser: Wenn ihn möglichst viele Menschen möglichst gleichzeitig finden. 

Musik & Mechanismen

Eine ordentliche Challenge für Konsumenten und Musiker. Produzent Christof Straub spricht dennoch von einer durchaus positiven "Demokratisierung“, weil ja andererseits in früheren Zeiten gar nichts ging, so man nicht im Radio gespielt wurde. Und das wurden fast nur Künstler, die bei einem der großen Plattenlabels unter Vertrag waren. Während heute   ein südafrikanischer Titel wie „Jerusalema“ dank eines Tanzvideos, das eine angolanische Company dazu aufgenommen hat, viral geht und im ersten Covid-Sommer 2020 der ganzen Welt ein bisschen Freude geben kann. 
Lässt sich heute also gar nichts planen in Sachen Sommerhit? Ist man wirklich nur auf den Zufall und gutes TikTok-Karma angewiesen? 

Ein großer Name hilft natürlich, wie man auch an aktuellen Favoriten sieht, so man es sich als Megastar eben antut, im Frühling oder Sommer statt im Herbst/Winter neue Songs zu veröffentlichen. Spanisch hat sich in den vergangenen Jahren als wichtigste Sprache des Sommers durchgesetzt. Der riesige Markt – Nord- und Südamerika, Europa – spielt hier mit, weitere Gründe erläutert unser zweiter Experte, Professor Michael Weber von der Wiener Musikuniversität, im Interview.

Geheimnis Sommerhit

"Früher ging es um Sehnsucht, heute um Erinnerung“

An der Wiener Universität ist Prof. Michael Weber stellvertretender Leiter des Instituts für Musikwissenschaft. Mit der sprach er über Hits vom Reißbrett, die oft verschlungenen Wege zum Erfolg – und die exotische Kraft der Sommerhits, die uns träumen lässt.

Es gibt eine britische Studie aus dem Jahr 2005, die dem Geheimnis des Sommerhits auf der Spur ist. Was ist an der dran?
Michael Weber: Studie ist für diese Arbeit ein großes Wort, sie wurde auch nicht in einer Fachschrift, sondern einem Airline-Magazin veröffentlicht. Aber ja, gewisse Parameter treffen sicher zu, Reduktion der Akkorde, keine Halbtonschritte zum höchsten oder niedrigsten Ton im Refrain – nur stimmt  das auch für Kaufhaus- oder Fahrstuhlmusik. 
Aber kann man nach diesem Muster nicht erfolgreiche Songs auf dem Reißbrett zusammenschneidern?
Das wird sicher versucht. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Es gibt ja auch mehr als genügend Bücher zum Thema „Wie schreibe ich einen Hit“ – aber kaum jemand, der eines gelesen hat, hat auch einen Hit geschrieben.
Was sind dann die besten Strategien?
Es gibt ganz einfach keine Garantien für einen Hit. Wobei ein bekannter Name natürlich ein Bonus ist. Aber vor allem heute, da der Einfluss des Radios praktisch abgeschafft ist, spielen zu viele Faktoren eine Rolle, um wirklich kalkulieren zu können. Manchmal passiert es, dass über TikTok ein jahrealter oder jahrzehntealter Song plötzlich bekannt wird. Das ist allerdings nichts Neues, das gab es auch schon in der Klassik, dass ein zu Lebzeiten unbekannter Komponist von der nächsten Generation entdeckt wurde.
Wie erklären Sie die massive Präsenz spanischsprachiger Titel?
Exotik spielte schon im frühen deutschen Schlager eine wichtige Rolle. Damals wurde sogar oft mit einem nachgemachten Akzent gesungen. Das bediente die Sehnsucht des Publikums nach Reisen in den Süden. Heute ist es eher der Erinnerung geschuldet, der Strand, die Party, die netten Leute, vielleicht ein Flirt oder eine Urlaubsromanze. Ein bisschen Sentimentalität also auch.
Aber warum ausgerechnet Spanisch und nicht Italienisch oder Französisch?
Die gab es schon auch, vor allem italienische Songs waren im letzten Jahrhundert sehr beliebt. Aber zum einen wird in Italien heute fast nur noch für den Domestic-Markt produziert, und zum anderen hat Spanisch eben ein ganz anderes Verbreitungsgebiet. Da werden in Miami Latin-Hits für den ganzen Kontinent aufgenommen, die bei uns über Spanien ebenfalls gut ankommen. Das funktioniert auch in die andere Richtung. Jedenfalls kommt es so zu einer Fülle an Songs, die sowohl in Europa als auch Amerika mit Sonne, Party und Sommer assoziiert werden.  

 Erst heuer entdeckte ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik einen Zusammenhang zwischen dem Wetter und unserer Songauswahl. Bei schönem Wetter hören wir eher flotte, tanzbare Titel, bei niedrigen Temperaturen und bewölktem Himmel eher Langsames in Moll.  Eine Korrelation, die den Laien jetzt nicht sonderlich erstaunt, oder, wie es Christof Straub mit Augenzwinkern ausdrückt: "Schön, dass wir das jetzt auch wissenschaftlich bestätigt haben.“ Vor etwas mehr als 15 Jahren ging man an der englischen Uni von Huddersfield schon mehr ans Eingemachte: Dort wurde nach Gemeinsamkeiten etablierter Sommerhits gesucht und doch einiges gefunden. Das führt über die Anzahl der Akkorde und der Halbtonschritte übers Tempo und den textlichen Inhalt bis zur potenziellen, möglichst einfachen Choreografie, die sich dazu anbietet. Und auch dazu – ebenso wie zur nahe liegenden Frage, warum man nicht einfach gleich eine KI fürs Songwriting verwendet, haben die Experten Straub und Weber einiges zu sagen.

Garantierte Sommerhits gibt’s übrigens ohnehin seit einigen Jahren, zumindest in Deutschland. Billige Synthie-Stampfbeats und einfachste Melodien sind das Rezept, dazu singen erwachsene Männer von nebenan, die sich "Zipfelbuben“ nennen über junge Frauen, die natürlich Schlampen sind – und alle grölen mit. Auch Frauen, die zeigen wollen, dass sie eh Spaß verstehen. Wenn man so etwas unter Spaß versteht. Ein Favorit aus der Ecke sind auch heuer wieder die unsäglichen Robin & Schürze, die uns vergangenes Jahr "Layla“ eingebrockt haben. Ihr aktueller Titel. "Bumsbar“. Stellvertretend für alle Experten sei an dieser Stelle Professor Hubert Wandjo zitiert, Business Direktor und Geschäftsführer der Popakademie Mannheim: "Er muss unter alkoholisiertem Zustand funktionieren und die niedrigsten Instinkte ansprechen.“ Dann doch lieber gar kein Sommerhit.  

TikTok & Co.: Demokratisierung durch Vielfalt

„Künstliche Intelligenz wird noch länger nicht für echte musikalische Highlights sorgen“

Doppelplatin für sein Debüt-Album mit Papermoon, mehrere Goldene Schallplatten und als Chef von Global Rockstar verantwortlich für den Erfolg von Künstlern wie Chris Steger – mit wem ließe sich besser über Hits plaudern als mit Christof Straub?  

Was macht einen Sommerhit aus?
Christof Straub:  Da sind natürlich das Tempo, positive Energie und auch eine mögliche Choreografie sehr wichtig. Es ist endlich mal warm, man will rausgehen, sich bewegen, sich spüren. Wobei’s schon auch Sommerhits gibt, die romantische Gefühle generieren, das sind aus irgendeinem Grund oft italienische. Mit denen man diese Gefühle in den Herbst hineinträgt ...
Warum gibt’s kaum österreichische Sommerhits?
Na ja, ein paar gibt’s schon. "Live is Life“ von Opus etwa, und ... war „Strade del Sole“ eigentlich ein Sommerhit? Ja doch, und in letzter Zeit gab’s auch ein paar. Aber diese Art Songs lebt in Österreich halt immer sehr vom Schmäh. Und das schränkt die Reichweite ein. Vielleicht sind wir abgesehen vom Schmäh-Genre auch nicht so die Sommerhit-Nation. Unsere Musik klingt oft eher nach Herbst.
Was ist für Sie das Erfolgsrezept der vielen spanischen Hits?
Neben der Sprache, die wir eben mit Urlaub verbinden, die simple Tatsache, dass sie oft richtig  gute Songs sind. "Despacito“ ist rhythmisch, melodiös und was die Phrasierung betrifft top. Auch über Eintagsfliegen wie den "Ketchup Song“ brauchen wir in der Beziehung nicht die Nase zu rümpfen. Gut gemacht! Denn wir dürfen nicht vergessen: Nur ein Song, der das Zeug zum Hit hat, wird auch ein Sommerhit.
Ist es heute schwieriger als früher, einen Sommerhit zu landen?
Schwierige Frage. Früher musste ein Song erst mal in die Läden gelangen. Und ins Radio. Das ging praktisch nur über einige große Plattenlabels. Und auch da war man dann abhängig, ob man von denen als "Priority“ eingestuft wurde, also ob sie auch Druck machen, dass man gespielt wird. Heute ist es durch die vielen verschiedenen Kanäle sehr divers. Es hat in gewisser Weise eine Demokratisierung stattgefunden, was doch zu begrüßen ist. Natürlich wird noch versucht, die Sache über Influencer und DJs zu steuern, aber da müssen einfach zu viele Faktoren zusammenspielen.
Und wenn wir es der KI überlassen?
Bekommen wir mittelmäßige Gebrauchsware. Für musikalische Highlights wird KI noch länger nicht sorgen.
Es gab Aktionen, da war das Ergebnis nicht von dem einiger Stars zu unterscheiden ...
Ja, aber dann muss man die KI auch mit sämtlichen Werken dieser Komponisten „füttern“. Und das wird urheberrechtlich zum Problem, weil man dazu eben die Rechte dieser Songs besitzen muss. Es ist noch nicht alles bis ins Detail geregelt, weil die Technik noch sehr neu ist. Aber im Endeffekt wird’s so laufen, wie es etwa Grimes jetzt vorgemacht hat: Sie stellt ihre Songs zur Verfügung, fordert dafür aber die Hälfte der Tantiemen. Aus allen bisherigen Sommerhits über KI einen Mega-Sommerhit zu kreieren, dürfte also schon rein organisatorisch sehr schwer werden ... 

Sommerhit 2023: Die Favoriten

Die Spotify Algorithmen berechnen jährlich die potenziellen Sommerhits. CHRISTOF STRAUB hat aus der Liste seine Favoriten herausgepickt. 

  • Olivia Rodrigo: Vampire 
    "Absolut toller Song, haut mich um. Für einen Sommerhit aber vielleicht  zu vielschichtig.“ 
  • Karol G & Shakira: TQG 
    "100-prozentig entspricht kein Song dem Schema. Der hat Potenzial.“
    Kylie Minogue:  Padam 
    "Der Name zählt natürlich auch. Vielleicht wird’s was.“
  • Ricchi E Poveri: Sarà perché ti amo 
    "Überraschend, den auf der Liste zu finden. Aber ja, der hätte das Zeug dazu. Wie  vor 40 Jahren!“  

Und hier die Favoriten der freizeit:

  • Rosalia: Tuya 
    Spaniens Star ist nicht zu stoppen.
  • Janelle Monáe: Water Slide 
    Sexy, smooth und ungewöhnlich. 
  • David Guetta & Anne-Marie: Baby Don’t Hurt Me 
    Großraumdisco mit Mörderstimme.
  • Karol G: Watati 
    Aus dem Barbie-Film. Und cool. 
  • Peter Fox & Adriano Celentano: Toscana Fanboys  
    Adriano IST der Sommer!
  • Maluma: Coco Loco 
    Klingt billig? Gerade deshalb!
  • Bilderbuch: Softpower 
    Keine Chance? Aber zu gut, um nicht erwähnt zu werden ...
Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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