Warum schauen die Leute immer noch so gerne Trash-TV?

Von "Tinderreisen" bis "Too Hot To Handle": Befinden wir uns fernsehtechnisch noch in den Nullerjahren?

Alle tun’s, doch keiner gibt es zu. Alle schauen nur Arte und die neue Elias-Canetti-Doku, aber später dann, nach drei Aperol auf der Gartenparty, redet doch nur jeder darüber, wer mit wem bei „Ex on the Beach“ gefummelt hat.

➤  Auf den Spuren der Tempelritter in Wien 

Kürzlich wurde ich, weil auch ich selbstverständlich nur das Literarische Quartett schaue oder Diskussionsrunden mit Konrad Paul Liessmann, überredet, „Tinderreisen“ anzusehen. Ich war erstaunt.

Offiziell mag vielleicht 2023 sein. Aber befinden wir uns in Wahrheit in einem Zeitloch, hat jemand die Pausetaste gedrückt und wir stecken fest, in den Untiefen der Nullerjahre?

„Big Brother“ gerierte sich damals als Tabubruch. In Österreich waren Molti, Spotzl, Pichla und Eigi im „Saturday Night Fever“ stets nah am Wodka gebaut.

Noch vor elf Jahren gab „Der Spiegel“ kühl das Ende der Ära Heidi Klum bekannt. Heute läuft trotz aller Mobbing-Debatten „Germany’s Next Top Model“ immer noch, in der gefühlt 30. Staffel.

Und jedes Jahr aufs Neue schmausen verhaltensoriginelle Z-Promis mit monetären Engpässen im „Dschungelcamp“ Känguruhoden. Immer noch hat Trash-TV also jede Menge Fans, jedoch: warum?

Guilty Pleasure

Schon klar, wenn dich untertags Kunden zur Weißglut treiben, dein Chef dich anbrüllt und du nach diesem Traumtagerl noch mit der U6 zur Stoßzeit wieder heimbimmeln musstest, ist abends nicht mehr viel mit Shakespeare und Goethe. Der Sinn steht nach seichter Unterhaltung und das geht einfach mal okay so.

Aber man kann sich das natürlich auch schönreden. Als psychologische Dekonstruktion oder Sozialexperiment mit offenem Ausgang. Selbst wenn man sich bloß am eigenen Voyeurismus ergötzt, sich erhaben fühlt, weil man merkt: So schlecht waren meine Dates ja doch nicht im Vergleich zu „Tinderreisen“. Und: Verglichen mit „Teenager werden Mütter“ habe ich mein Leben im Griff.

Das Problem ist nur, Trash-TV schauen lässt das Gehirn schrumpfen, wie eine Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health festgestellt hat. Andererseits sorgen Guilty Pleasures wie der Netflix-Hit „To Hot Too Handle“ stetig für witzigen Small Talk. Jetzt muss jeder selbst entscheiden.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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