Donald Sutherland - im allerdings etwas irren "Fellinis Casanova"

Legendärer Liebhaber Casanova: Mehr als ein Macho mit Goldketterl

Heute wäre Giacomo Casanova im Visier der Cancel Culture. Aber: Wer ihn allein auf seine unzähligen Affären reduziert, tut ihm Unrecht. Eine Hommage.

Ein Name als Marke. Keinem anderen Mann vor oder nach Giacomo Girolamo Casanova wurde die Ehre zuteil, zu einem weltweit verstandenen Deonym heranzuwachsen. Ein Gattungsbegriff quasi, wie Tempo, Tupperware oder Tesa. 

Eine zweifelhafte Ehre freilich, wobei der ursprüngliche Namensträger wohl den Kopf schütteln würde, könnte er die heutigen "Casanovas" sehen, die in jeder Stadt zwischen Traun und Tokio, Seattle und Seiersberg-Pirka im Überfluss zu finden sind. In jeder Marktgemeinde, jedem Dorf, jedem Tal. 

Wobei: Mit plumpen Anmachsprüchen hatte der berühmte Liebhaber, der in Venedigs Stadtteil San Marco als Sohn der zu ihrer Zeit recht bekannten Schauspielerin Giovanna Farussi, genannt "La Buranella", geboren wurde, nichts am Hut. 

Und überhaupt: Auch wenn der gute Mann mit 150 bis 300 Frauen intim war, wie heute geschätzt wird, sollte man ihn nicht nur auf "das Eine" reduzieren. 

Außerdem lest ihr in dieser Geschichte noch:

  • Ein genderfluider Macho - gibt es sowas überhaupt?
  • Schickes Handy, geile Sneakers und Muckis reich(t)en nicht
  • DAS ist das Geheimnis seines Erfolges!

Denn Giacomo Casanova war immerhin ebenso Marineoffizier, Geiger, Unternehmer, Berufsspieler, Magier, Spion und Hochstapler, Mathematiker, Alchemist, Freimaurer und Diplomat, Bibliothekar, Übersetzer, Philosoph – und Abenteurer. Wenn es je einen Mann gegeben hat, der diese Tätigkeit zum Beruf gemacht hat, dann er. 

Autor war er natürlich auch, und obwohl der literarische Wert seiner gut 4.000 Seiten starken Memoiren heute umstritten ist (immerhin war Goethe ein Fan!), bieten sie doch ein unvergleichliches Sittenbild Europas im Übergang zwischen Barock, Rokoko und Aufklärung
 

Der große John Malkovich in "Casanova Variations".

Der große John Malkovich in "Casanova Variations". Und ja, der Charmeur war tatsächlich ein erfahrener und äußerst gefährlicher Duellist. Nicht nur im Film ...

©FILMladen

Aber er hatte doch Affären mit Minderjährigen, sogar gleichzeitig mit Mutter und Tochter – und er nutzte schamlos das Machtgefälle zwischen Mann und Frau aus! 

Stimmt, zumindest zum Teil. Auf jeden Fall wäre der Gute heute im Visier der Cancel-Sheriffs. Nicht völlig zurecht allerdings, da es immer etwas fragwürdig ist, moderne Standards auf Menschen anderer Epochen zu projizieren. 

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Ein genderfluider Macho?

Das räumt auch der US-Literaturprofessor Leo Damrosch, der sich in seinem empfehlenswerten "The Life and Times of Giacomo Casanova" auf über 400 Seiten vor allem auch am ewigen Liebhaber abarbeitete, durchaus ein. 

Allerdings hält er Casanova dann doch vor, gesellschaftliche Ungleichheiten manipulativ auszunutzen, wie es schon der große Casanova-Biograf James Rives Childs, der dem Venezianer stellenweise beinahe bewundernd gegenüberstand, ebenfalls gemacht hatte. 

Freud-Schüler und Psychoanalytiker Ernest Jones diagnostiziert gar narzisstische Persönlichkeitszüge und beschreibt Casanova als "Archetyp des Verführers, dessen Bedürfnis nach Bestätigung und Kontrolle aus einer tiefen Unsicherheit herrührt". Also doch ein Macho?

Leonard Whiting in "Die heißen Abenteuer des jungen Casanova"

Würde Casanova DAS witzig finden? Eher nicht. Der durchaus interessanten Jugend Casanovas widmete sich die Verfilmung mit Leonard Whiting  – blieb dabei aber so platt wie der Titel: "Die heißen Abenteuer des jungen Casanova". 

©MEGA FILM / Mary Evans / picturedesk.com

Dagegen steht allerdings das Urteil von Jones’ Kollegin Lydia Flem, die in Casanova einen Mann sieht, "der in seinen Beziehungen sowohl Macht ausübte als auch verletzlich war". Und zurecht darauf hinweist, dass zu seiner Zeit die soziale Klasse in manchen Fällen mehr Gewicht hatte als die Geschlechtszugehörigkeit, das Machtgefälle also keinesfalls immer aufseiten Casanovas war. 

Dafür konstatiert Flem dem alten Schwerenöter sogar etwas beinahe atemberaubend Zeitgemäßes: Genderfluidität. "Im Moment höchster Lust", schreibt sie, sehe Casanova sich "selbst als vom gleichen Geschlecht wie seine Partnerin oder sie als von seinem; er weiß nicht mehr, welchem Geschlecht er angehört."

Anziehend emanzipiert

In diesem Zusammenhang wird oft übersehen, dass Casanova in seinen Memoiren auch zwei sexuelle Erlebnisse mit Männern beschreibt und einige weitere zumindest in Randnotizen erwähnt. Während viele seiner weiblichen Geliebten bisexuell waren und zwei der Frauen, die er als große Lieben seines Lebens beschreibt, Männerkleidung trugen, als er sie kennenlernte.

Denn es waren vor allem selbstbewusste, sexuell emanzipierte Frauen, die Casanova faszinierten. Natürlich waren immer wieder auch Geliebte in einem Alter darunter, in dem man sie weniger als emanzipiert denn als experimentierfreudig bezeichnen muss. Einerseits bildeten die sehr jungen Damen aber tatsächlich eine Ausnahme, andererseits muss man bedenken, dass in Casanovas Zeit die Idee eines schützenswerten Alters bei Jugendlichen nicht existierte. 

Casanova

Superstar Heath Ledger hätte sich als vielschichtiger "Casanova" beweisen können. Es blieb leider beim Popcorn-Kino ...

©©TOUCHSTONE PICTURES. ALL R / Mary Evans / picturedesk.com

Mädchen galten seit der Antike mit etwa zwölf Jahren als Frauen und wurden ab dieser Zeit auch "verheiratet".  Dass, vor allem in adeligen Kreisen, sogar greisenhafte Männer sich in 14-, 15-jährige "Frauen" verliebten und diese oft auch heirateten, ist zwar widerlich – war aber nicht ungewöhnlich. 

Casanova etwa sollte als 15-Jähriger für seinen Gönner, den venezianischen Senator Alvise Gasparo Malipiero, die 17-jährige Sängerin Teresa Imer, die im Nebenhaus des Palazzos der Malipieros wohnte, und in die sich der alte Bock verliebt hatte, gewinnen. 

Malipiero war damals 76 und weder er noch seine Standeskollegen fanden etwas an der Angelegenheit unnatürlich. 

Intellekt macht sexy

Die Sache ging insofern gehörig schief, man möchte sagen "zum Glück!", als die beiden Teenager sich stattdessen ineinander verliebten – und der zornige alte Senator den jugendlichen Casanova mit Stockhieben aus dem Haus werfen ließ. 

Teresa sollte eine der wenigen großen Lieben im Leben Casanovas werden und bleiben. Längere Zeit zusammen blieben sie allerdings nie, dafür waren beide zu unstet, wenn man es so nennen will. Ein wesentlicher Punkt ist allerdings, dass der große Lebemann praktisch immer Frauen begehrte, deren Intellekt er schätzte, die er als ebenbürtig empfand. Und dass er den Frauen genau dieses Gefühl gab, mag vielleicht ja sogar das Geheimnis seines Erfolges gewesen sein, wer weiß?

Und da wir gerade beim Intellekt sind: Auch der wird beim Abenteurer aus Venedig gerne ignoriert, vor allem in einigen der halblustigen Verfilmungen, die im Lauf der Jahre entstanden sind. Der junge Casanova kam zwar erst spät in den Genuss eines regulären Schulunterrichts, mit neun Jahren, nachdem sein Vater auf dem Sterbebett den einflussreichen Abate Grimani darum gebeten hat, die Vormundschaft zu übernehmen. 

Dafür schloss er den Schulunterricht dann bereits nach drei intensiven Jahren erfolgreich ab. Er war ein Kenner der gesamten klassischen Literatur, kannte viele Werke auswendig, was ihn später zu einem europaweit gefragten Gesprächspartner gekrönter und intellektueller Häupter machte. 

Darüber hinaus hatte Casanova schon damals  exzellente Kenntnisse der Mathematik, spielte gut genug Geige, dass er davon sogar leben konnte – und schrieb sich mit zwölf Jahren an der Universität von Padua fürs Rechtsstudium ein. Mit 15 ging er zurück nach Venedig, wo er sich auch religiösen Studien widmete, mit 16 war er Abate, also niedriger Kleriker. 

Wir haben es hier demnach mit einem durchaus geistreichen Mann zu tun. Wäre ja auch ein wenig traurig, wenn er sich für den amourösen Teil seiner Abenteuer auf Goldketterl, flottes Auto und ein gerauntes "Na, schöne Frau" verlassen hätte müssen. Oder ein schickes Handy, geile Sneakers, Muckis und die richtige Datingplattform – je nachdem, von welcher Generation wir sprechen.

Donald Sutherland - im allerdings etwas irren "Fellinis Casanova"

Legendär ist Donald Sutherland - im allerdings etwas irren "Fellinis Casanova"

©PRODUZIONI EUROPEE ASSOCIATI [PE / Mary Evans / picturedesk.com

Nein, Casanova parlierte geistreich mit Dichtern und Denkern ebenso wie mit Fürsten und Königen. 

Benjamin Franklin, der mit ihm in Paris gerne über Politik und Wissenschaft plauderte, sah in ihm einen "Mann von Geist und Geschick". Carlo Goldoni bewunderte Casanovas Charme und Intelligenz und war damit einer Meinung mit Friedrich dem Großen, der allerdings auch feststellte, er habe "keinen festen Charakter". 

Eine Art Hassliebe verband Casanova mit Voltaire, den er in der Schweiz persönlich traf. Casanova, der den älteren, berühmten Philosophen und Schriftsteller geradezu verehrte, fühlte sich durch dessen Distanziertheit gedemütigt, nannte ihn später arrogant und selbstbezogen. 

Großes Ego

"Er war ein großer Mann, aber auch ein Mann, der sich selbst zu sehr liebte", schrieb er in seinen Memoiren. "Er ist ein Mann, der sich gerne wichtig macht", schrieb dagegen Voltaire über ihn und: "Ein Mann von Geist, aber sein Mundwerk ist ebenso groß wie sein Ego." 

Da dürften sich wohl die zwei Richtigen getroffen haben ...

Was bleibt also vom "größten Liebhaber aller Zeiten" nach 300 Jahren? Eine etwas einseitige Sicht auf jeden Fall. Nicht wenn’s um wissenschaftliche Arbeiten geht, aber doch im Bereich der Unterhaltung.

Weitgereister Abenteurer

Vielleicht war sein Leben ja auch einfach zu prall für einen Film und wurde deshalb fast immer auf "das Eine" zusammengekocht. Dabei fehlen dann die fantastischen Reisen nach Konstantinopel, quer durch Italien und Europa, von London bis nach St. Petersburg. Die Treffen mit Berühmtheiten, die geschriebenen Bücher – und natürlich auch die haarsträubenden Betrügereien, endlosen Wirtshausprügeleien und die mehr als 14 Duelle, die er aus Ehrgründen ausgefochten hat. 

Aber vielleicht bekommt er ja zum Geburtstag eine Serie? Die müsste dann allerdings fünf Staffeln haben. Mindestens.

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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