Henri Matisse: "Wildes Tier" und Befreier der Farben
Pablo Picassos Gegenpol – und mit ihm befreundet. Als Verführer verschrien - und mönchisch: Henri Matisse, der die Kunstwelt veränderte.
Henri Matisse, dem großen Franzosen, wird derzeit in der Schweiz die erste große Retrospektive seit Jahrzehnten gewidmet.
Nichts deutete darauf hin, dass Henri Émile Benoît Matisse, der am 31. Dezember vor 155 Jahren im hohen Norden Frankreichs geboren wurde, eine künstlerische Laufbahn einschlagen sollte. Er war kein Wunderkind, unterschied sich also quasi schon von Beginn an von vielen der ganz Großen.
Papa Matisse führte einen einträglichen Samenhandel im beschaulichen Le Cateau-Cambrésis, die Großeltern besaßen dort ein Landgut. Der junge Henri war ein guter Schüler und entschied sich nach Abschluss eines humanistischen Gymnasiums fürs Studium der Rechtswissenschaften. Durchaus mit dem Plan im Hinterkopf, später die Geschäfte des Vaters zu übernehmen.
Sein Leben hätte eine gänzlich andere Wendung genommen, oder eben keine, wäre ihm mit 21, als er bereits als Anwaltsgehilfe arbeitete, nicht eine Blinddarmentzündung dazwischengekommen...
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Dabei darf man nicht vergessen: Im 19. Jahrhundert war eine Appendizitis eine lebensbedrohliche Angelegenheit, Matisse blieb monatelang ans Bett gefesselt. Um sich die Zeit zu vertreiben, ließ er sich von seinen Eltern schließlich Farben und Papier bringen. Und die sorgten, wie es den unscheinbarsten Dingen manchmal eben gelingt, für eine komplette Umkehrung seines ursprünglichen Lebensplans.
In seinen Memoiren wird Henri Matisse viele Jahre später schreiben: "Von dem Moment an, als ich den Farbkasten in meinen Händen hielt, wusste ich, dass das mein Leben sein würde."
Kaum genesen, gab er 1891 seine Rechtsanwaltslaufbahn auf und schrieb sich in Paris an der privaten Kunstschule Académie Julian ein.
Prüfung nicht bestanden!
Eigentlich sollte die Zeit an der "Julian" Matisse nur für die Aufnahme an der berühmten École nationale supérieure des beaux-arts, also der staatlichen Kunsthochschule, vorbereiten. So zumindest sein Plan. Deren Aufnahmeprüfung sollte er allerdings vorerst nicht bestehen.
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Doch die Wandlung vom Geschäftsmann und Juristen zum Künstler, die sich in ihm vollzogen hatte, war so tiefgreifend, dass Matisse sich auch von diesem Rückschlag nicht entmutigen ließ. Er belegte zusätzlich Kurse an der Kunstgewerbeschule. Eine Entscheidung, die ihm im Lauf seiner Karriere sehr nützlich sein sollte. Und 1895 klappte es mit der Aufnahmeprüfung an der "École" dann doch.
Damals war Matisse übrigens schon Vater einer einjährigen Tochter, die er mit Camille Joblaud, einem Modell, das für ihn arbeitete, hatte.
An dieser Stelle deshalb gleich auch ein Hinweis: Die Gerüchte, er habe mit praktisch allen seiner Modelle Affären gehabt, sogar mit der Nonne Monique Bourgeois, wurden alle widerlegt. Er lebte ein – zumindest beinahe – "mönchisches" Leben, wie seine britische Biografin Hilary Spurling es formulierte. Auch in dieser Hinsicht unterschied er sich also recht deutlich von Pablo Picasso – und sehr vielen anderen Malern seiner Zeit.
Retrospektive in Basel
Die große Retrospektive in der Fondation Beyeler in Basel gewährt Blicke auf eine ungewöhnliche Karriere.
Matisse - Einladung zur Reise
Henri-Matisse-Retrospektive
bis 26.1.2025
Fondation Beyeler, Basel, Schweiz
Lehrjahre und Aufbruch
Henri Matisse nutzte seine Lehrjahre jedenfalls auch als Jungvater, kopierte Klassiker im Louvre und besuchte schließlich den australischen Maler John Peter Russell auf der bretonischen Insel Belle-Île-en-Mer, der ihn mit den Impressionisten und vor allem Vincent van Gogh vertraut machte. "Russell war mein Lehrer, und Russell erklärte mir die Farbtheorie", sollte Matisse später sagen.
Ein wesentlicher Punkt, denn immerhin wird Henri Matisse selbst als Befreier der Farben in die Kunstgeschichte eingehen.
Denn seit dieser Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Matisse war damals knapp 30, betrachtete er Farben nicht nur als Mittel zum Zweck in der Malerei, sondern als eigene "Kräfte, die je nach Inspiration zusammengesetzt werden müssen".
Kräfte, vor deren Gewalt Matisse keine Angst hatte, und die er fünf Jahre später, nach einem längeren Aufenthalt an der Côte d'Azur, von der Leine ließ: Gemeinsam mit seinem Freund André Derain und weiteren Gesinnungsgenossen in Sachen Farbkraft präsentierte Matisse im Herbst 1905 im Rahmen der Pariser Kunstausstellung Salon d’Automne seine neuen Bilder – und die sollten nichts weniger als eine eigene Kunstrichtung prägen.
Die "wilden Tiere"
Denn im Raum, in dem Matisse und seine Gruppe eine "Orgie aus reinen Farben" ausstellten, wie es der angesehene Kritiker Louis Vauxcelles am nächsten Tag beschrieb, befand sich auch eine eher "klassische" Skulptur des Bildhauers Albert Marque, die an Renaissance-Werke erinnerte. "Donatello chez les fauves", formulierte Vauxcelles zu diesem Clash von Klassik und Moderne, also "Donatello bei den wilden Tieren".
Und gab damit dem Stil seinen bis heute gültigen Namen: Fauvismus.
Blumenstrauß von Picasso
Im Mittelpunkt der Kritik stand damals – natürlich, möchte man sagen – eines der beiden Bilder, die Matisse zur Ausstellung beigesteuert hat: "Femme au chapeau" (Frau mit Hut), ein Porträt seiner Frau Amélie, das praktisch alles repräsentierte, was diese neue Richtung so ungewöhnlich machte. Farben bekamen hier ein eigenes Leben, drückten Gefühl aus und wurden keinen Harmoniekriterien unterworfen, ja sie folgten nicht einmal den Vorgaben der Natur!
Im Jahr darauf lernten Matisse und Picasso einander kennen. Im Salon von Gertrude Stein, deren Bruder Leo die skandalöse "Frau mit Hut" für 500 Franc gekauft hatte.
Picasso: Rivale und Freund
Die künstlerische Rivalität der beiden Ausnahmemaler änderte nichts an ihrer gegenseitigen Wertschätzung – und ihrer tiefen Freundschaft.
"Im Grunde gibt es nichts als Matisse", sagte Picasso.
"Nur Picasso kann sich alles erlauben. Er ist immer, er bleibt immer im Recht", sagte Matisse.
Auch ihre gänzlich unterschiedlichen Herangehensweisen beschrieben die beiden selbst recht deutlich: "Die Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu schmücken. Sie ist eine Angriffs- und Verteidigungswaffe", sagte Picasso 1945.
"Ein Gemälde an der Wand sollte wie ein Blumenstrauß im Zimmer sein", entgegnete Matisse wenige Monate später.
Aber auch völlig kontroverse Standpunkte wie diese änderten nichts daran, dass Pablo Picasso in Henri Matisse den einzigen zeitgenössischen Maler sah, der ihm ebenbürtig war. "Deshalb allein zum Beispiel ist Matisse Matisse: weil er die Sonne im Leib hat", schrieb Picasso über den zwölf Jahre älteren Freund. Und, beinahe schon erschreckend bescheiden: "Er ist unser größter Maler."
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