Waterhouse: The Lady of Shalott

Die Maler, von denen (fast) alle Fantasy-Serien schamlos kopieren

Vor 180 Jahren legten zwei Teenager den Grundstein für eine "Bruderschaft", deren Ästhetik heute noch Film, Fernsehen und Mode prägt.

Herbst 1844. Es war ein Wintersemester, das die Kunstgeschichte auf Dauer beeinflussen sollte. Und nicht nur die – auch alles, was wir heute an Fantasy-Filmen und Mittelalter-Abenteuern sehen und so sehr verinnerlicht haben, dass es visuell jede Realität an Kraft übertrifft. Vor 180 Jahren trafen an der Royal Academy in London die beiden Jungstudenten William Holman Hunt und John Everett Millais aufeinander. 

Und die beiden sollten den Grundstein für eine künstlerische Bewegung legen, die als "Präraffaelitische Bruderschaft" die Vergangenheit in einer Form ästhetisierte, die bis in unsere Gegenwart und wahrscheinlich noch viele Jahrzehnte darüber hinaus, spürbar ist.

So sperrig der Name Präraffaeliten aufs erste Hinhören klingt, so vertraut scheinen heute noch die alten Bilder, die unter diesem Banner entstanden sind. Natürlich, das kennt man doch!, denkt automatisch, wer heute etwa eines der Bilder von John William Waterhouse sieht. Der Maler-Superstar hat sich im späten 19. Jahrhundert dem Akademischen Realismus ab- und den Präraffaeliten zugewandt. 

Seine ikonischen Bilder wie "Eurydike", "La Belle Dame sans Merci", "Magic Circle" und immer wieder das von Alfred Lord Tennyson inspirierte "The Lady of Shalott" beeinflussen alles, was wir heute zwischen Rings of Power, House of Dragons und Lord of the Rings zu sehen bekommen.

Was ist also in jenem nebeligen Londoner Herbst passiert, das heute noch eine derartige Wirkkraft ausübt? 

Außerdem lest ihr in dieser Geschichte noch:

  • Die Rebellen LEBEN Rock'n'Roll
  • Geburt der It-Girls
  • Tolkien und das Vermächtnis der Bruderschaft

Wunderkind & Rebell

Millais, ein junger Mann aus gutem Haus, aufgewachsen auf der Kanal-Insel Jersey, galt als veritables Wunderkind und war schon als 11-Jähriger an der Royal Academy angenommen worden – noch heute ein Rekord an der ehrwürdigen Kunstschule. Der Londoner Holman Hunt war der Sohn eines eher mittelprächtigen Warenhausbetreibers, arbeitete als Kopist im British Museum – und schaffte die Aufnahme an der Akademie erst im dritten Anlauf. 

Was die beiden unterschiedlichen Charaktere einte und sie dazu brachte quasi auf Anhieb Freundschaft zu schließen, war ihre Liebe zur Kunst des späten Mittelalters, auch des Quattrocento, also der frühen Renaissance, die Faszination an Sagen und Mythen. Ebenso wie die schwärmerische Faszination an der Lyrik eines John Keats, William Blake und, etwas später, des großen Alfred Lord Tennyson

Waterhouse: Hylas

Die Macht der Frauen: Auch ein unbezwingbarer Held wie der Argonaut Hylas ist davor nicht sicher. Den Nymphen im Wald  war er nicht gewachsen (Waterhouse, 1896) 

©mauritius images / World Book Inc./World Book Inc./mauritius images

Dazu kam, vor allem bei William Holman Hunt, eine tiefgreifende Ablehnung des konservativen Festhaltens an den Dogmen des Akademie-Gründers Sir Joshua Reynolds, der von Malern eine "Perfektionierung des Imperfekten" verlangte. 

Idealisierung war Hunt ein Graus, ihm ging es um Ideen, Stimmungen, die er ausdrücken wollte, tiefe Gefühle – im harschen Gegensatz zum damals vorherrschenden "schönen Schein". Und zumindest in der jugendlichen Sturm- und Drang-Phase seines Lebens, schwang Millais mit seinem neuen Freund auf exakt derselben Wellenlänge. 

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Die beiden setzten eine Reihe von Regeln auf, die ihre "Bruderschaft" definieren und vertiefen sollte, und ihre revolutionären Ideen zogen bald auch einen hochbegabten jungen Mann in ihren Bann, der durch sein Talent, aber auch seine charismatische bis dominierende Art zu einer Art "Frontman" der Präraffaeliten wurde: Dante Gabriel Rossetti

Von der Boyband zu Rockstars

Und der hier aus der Musikwelt entlehnte Begriff "Frontman" trifft nicht nur auf Rossetti zu, sondern beschreibt durchaus auch das Auftreten dieser drei Maler. Sie pfiffen auf Konventionen und waren – das darf man nicht vergessen – Teenager, als sie einander kennenlernten, und gerade einmal zwischen 19 und 21, als sie 1848 im Londoner Stadthaus von Millais’ Eltern die Statuen ihrer Bruderschaft offiziell niederschrieben.

Millais:  „Ophelia“

Tragisches It-Girl: Elizabeth Siddal (hier als „Ophelia“ in Millais' Gemälde) war ein echter Superstar – und starb mit nur 33 Jahren an ihrer Drogensucht

©mauritius images / Steve Vidler //Steve Vidler/mauritius images

Eine Boyband also? 

Vielleicht, aber sie wurden zu ausgewachsenen Rockstars. Dieses besondere Flair wird übrigens auch in der preisgekrönten BBC-Miniserie "Desperate Romantics" aus dem Jahr 2009 ausgezeichnet vermittelt.  Inklusive intensiver Liebesverwirrungen, die, wie das eben so ist, zu guter Letzt zur Auflösung der "Band" führten. Das Genre, das durch sie geprägt wurde, lebte freilich weiter. 

Aber dazu später mehr. 

Den drei Ur-Präraffaeliten schlossen sich bald Maler wie Frederic George Stephens, Thomas Woolner und James Collinson, später auch der berühmte Edward Burne-Jones an. 

... und immer die Frauen

Allen gemeinsam war, dass sie mit Vorliebe Frauen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit – und das ihrer Bilder – rückten. Und zwar keinesfalls die idealisierten und dadurch austauschbaren Figuren der akademischen Realisten und Historienmaler, sondern Frauen aus Fleisch und Blut, teils ihre Schwestern, Tanten – aber immer wieder und vor allem ihre Freundinnen.  

In Bars, in Lebensmittelgeschäften, in den Salons der besseren Gesellschaft, in denen manche von ihnen verkehrten, während andere dort nur unterrichteten: Sie sahen überall "das" Gesicht, "den"  besonderen Schwung eines Nackens, einer Hüfte, eines Busens. So sprang Rossetti gar einmal aus einer Miet-Droschke, um eine junge Frau davon zu überzeugen, für ihn Model zu stehen. 

Die Dame wurde eines der berühmtesten Models ihrer Zeit, Alexa Wilding. Rossetti malte sie in den unterschiedlichsten Settings, als mythologische, männerverführende Sirene ("A Sea-Spell"), als Adams erste, "verdorbene" Frau ("Lady Lilith"), als Venus ("La Bella Mano") und in vielen mehr. 

Dabei war die aus ärmsten Verhältnissen stammende Wilding eine der wenigen, die sich nie auf eine Affäre mit dem Star der Präraffaeliten einließ. 

Denn Rossetti, der auch ein hochgelobter Lyriker war, ließ in dieser Hinsicht keine Gelegenheit aus. Fanny Cornforth war Model, Muse und durfte ihm auch den Haushalt führen. Die mit seinem besten Freund, dem Schriftsteller William Morris, verheiratete Jane Burden malte er nicht nur in Dutzenden Szenarien (unter anderem in seinem berühmten "Day Dream"), sie war auch jahrelang seine Geliebte.

Während er mit ihr und ihren Kindern die Sommer in  einem gemieteten Anwesen in Oxfordshire verbrachte, reiste der gute William bis nach Island, um sich die Sache nicht auch noch ansehen und anhören zu müssen. Denn die Affäre wurde in London zum Stadtgespräch.

Aber immerhin: Ohne seine Island-Reisen wäre es wohl nie zu seiner hervorragenden Übersetzung altnordischer Mythen, der Edda und der Völsunga Saga gekommen. 

Die Geburt der It-Girls

Rossetti schreckte auch nicht davor zurück, sich mit Annie Miller, dem Model – und der Freundin – seines "Bruders" William Holman Hunt einzulassen. Die beiden wollten eigentlich heiraten, davor ging Holman allerdings auf eine längere Studienreise nach Palästina, Rossetti begann sie ebenfalls zu malen, unter anderem als "Helen of Troy". Wobei er wohl in gewisser Weise ihr "Paris" geworden sein dürfte. Holman kam 1856 zurück, sah die Bilder – und die Hochzeit wurde abgesagt. 

Dies markiert gleichzeitig auch das Ende der eigentlichen Bruderschaft. Holman Hunt und Rossetti gingen sich zwar nicht an die Gurgel, aber aus dem Weg. Und John Everett Millais hatte im Jahr zuvor sein Lieblings-Model Effie Gray geheiratet und wandte sich, angeblich aus finanziellen Gründen, der zuvor so verhassten akademischen Malerei zu. 

Rossetti: The Day Dream

„Super-Model“ Jane Morris in Dante Gabriel Rossettis „The Day Dream“ (1880)

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Millais'  Effie war übrigens ihrerseits eigentlich die Frau seines Freundes John Ruskin gewesen, des bekannten Autors, Kritikers und glühenden Verehrers der Präraffaeliten. Und ja, auch dieses Liebesdreieck versorgte London und ganz England für einige Zeit mit pikantem Gesprächsstoff. 

Rock 'n' Roll? Jede Menge, könnte man sagen.

Auffallend ist in diesem Zusammenhang aber auch, mit welcher Selbstbestimmtheit die Frauen der Raffaeliten im prüden viktorianischen England ihr Leben in die Hand nahmen. So war es Effie Gray, die die Initiative ergriff und ihre Ehe mit John Ruskin annullieren ließ, Jane Morris machte sich als Designerin selbst einen Namen und hatte schließlich genügend Geld, um den Sommersitz in Oxfordshire zu kaufen. 

Und andere Frauen, etwa "Musen" wie Marie Stillman oder Elizabeth Siddal, machten sich selbst als Malerinnen und Dichterinnen einen Namen. 

Waterhouse: „Lamia“

Schön und gefährlich: Die Präraffaeliten liebten es Frauen abzubilden, die Männer ins Unglück stürzen können. Hier die Dämonin „Lamia“ auf einem Gemälde von Waterhouse (1905)

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Sie waren anders als das damals gängige Frauenbild und nicht nur wegen ihrer, wie es ein zeitgenössischer Kritiker ausdrückte, "bee-stung Lips", die der asexuellen Schmallippigkeit ihrer Zeit eine empörende Sinnlichkeit entgegensetzten, überraschend modern. It-Girls, wenn man so will, über die gesprochen wurde, natürlich auch gelästert – aber junge Frauen wollten sein wie sie! 

Das Supermodel unter ihnen war wohl Elizabeth Siddal, alles an ihr wurde verehrt. Ihr schmaler Körper, der lange Hals, der kühn geschwungene Mund, das rotbraune Haar. Millais malte sie als seine berühmte "Ophelia" (Seite 68), später wurde sie – natürlich – Rossettis Muse, Schülerin und Geliebte. Vielleicht die einzige Frau, die er tatsächlich liebte. Jedenfalls die einzige, die er je geheiratet hat.

Er hatte lange gezögert, da sie eigentlich "unter seinem Stand" war. Zu lange. Als er sich endlich traute, war sie schon schwer an Tuberkulose erkrankt und opiumsüchtig. Sie starb knapp zwei Jahre nach der Hochzeit mit nur 33 Jahren.

Morfydd Clark als Galadriel

Egal ob „Rings of Power“ (im Bild:  Morfydd Clark als Galadriel), „Herr der Ringe“ oder andere Fantasy- und Mittelalter-Filme: Der Einfluss der Präraffaeliten ist immer sichtbar

©Ben Rothstein / Prime Video

Bruderschaft heute: Mode & Film

Vielleicht sind es ja auch die Geschichten hinter den Bildern, die zu ihrem "ewigen" Zauber beitragen. 20 Jahre nach der Trennung brachte John William Waterhouse die "Bruderschaft" zu einem neuen Höhenflug, indem er Elemente des klassischen Realismus und des Impressionismus damit verwob. Und so Bilder schuf, die, ganz wie die meisten ihrer Motive, einfach zeitlos sind. Heute schwärmt etwa Modefotografie-Shootingstar Jamie Hawkesworth von der "Brotherhood", wenn er Bilder für Alexander McQueen in ihrem Sinn inszeniert. 

Natürlich war auch J. R. R. Tolkien selbst ein Bewunderer. Und so ist es eigentlich nur logisch, wenn Kostümdesignerin Kate Hawley von der eben abgelaufenen "Rings of Power"-Serie betont, sehr von den Präraffaeliten beeinflusst zu sein. "Einige von ihnen waren ja sogar Tolkiens Zeitgenossen. Kleidung, Frisuren, Rüstungen – ihre Werke sind noch immer richtungsweisend!"

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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