Die Musik-Dinos sterben aus: Video killed the Rock 'n' Roll-Star
Jeder hört Musik – aber es gibt keine Rockstars mehr. Stattdessen füllen heute Frontmen, die sich beim Pullistricken filmen, die Stadien.
Musik boomt. Egal ob aus der Konserve oder live, niemand geht mehr ohne Ohrstöpsel aus dem Haus, weil er "seine" Mucke unbedingt auf Schritt und Tritt dabei haben muss. Und mit ihren Konzerten füllen die aktuellen Superstars Hallen, Stadien und Freiluftarenen nicht nur an einem Tag, sondern gleich ganze Wochen.
Das heißt natürlich auch: Popstars sind heute größer als je zuvor, haben mehr Fans, mehr Geld, mehr Ruhm. Und sogar mehr Power – vielleicht, hoffentlich, können einige von ihnen ja sogar Wahlen entscheiden, wir werden sehen.
Was allerdings auffällt: Es ist eine Art virtueller Garten Eden, in dem die himmlischen Wesen, zumindest über Social Media, freundlich lächelnd mitten unter ihren Jüngern spazierengehen, Selfies und Rezepte teilen, Tipps zu interessanten Themen wie Fitness, Gärtnern oder Haustierhaltung geben und so die ganze Welt an ihrem wunderbaren, aber doch irgendwie auch "ganz normalem" Leben teilhaben lassen.
Was auch auffällt: In diesem Reservat der reinen Harmonie ist für Rockstars kaum mehr Platz – die Gattung ist akut vom Aussterben bedroht.
Außerdem lest ihr in dieser Geschichte noch
- Stars zum Anfassen - zumindest virtuell
- Led Zeppelin & Co: Gerüchte, Skandale, Faszination
- Kein Rock'n'Roll-Lifestyle für "gläserne Stars"
Es war einmal ...
Wir erinnern uns: Es gab etwas, das nannte sich Rock ’n’ Roll-Lifestyle. Wahrscheinlich haben ihn in den 1950ern schon Elvis & Co gelebt, vielleicht ja auch schon Frank Sinatra im Jahrzehnt davor. Geprägt wurde er aber von den Stars der 1960er und 70er. Wenn die Rolling Stones auf diesem Gebiet die Pioniere waren, brachten es Led Zeppelin zur Meisterschaft.
Sie hatten alles, was man von einem Rockstar erwartete: Charisma, Arroganz, Lässigkeit, Draufgängertum, Respektlosigkeit – alles, was man sich im normalen Leben nicht erlauben sollte oder konnte. Katharsis, Baby! Und nein, freundlich Lächeln und Pullover stricken gehörte nicht dazu.
Rock war eine Art Ventil, eine Möglichkeit des Ausbruchs aus der grauen Normalität, von der man umgeben war. Es war eine Musik, die sich bewusst von dem absetzen wollte, was die "Alten" hören, die "Etablierten" oder auch ganz einfach die breite Masse. Ihre Protagonisten wurden dennoch zu Superstars, weil sie dafür quasi die gesamte Jugend auf ihrer Seite hatten.
Für die waren Mick und Keith, Robert und Jimmy zwar persönlich unerreichbar, aber trotzdem die besten Kumpel, wenn’s darum ging, Eltern, Lehrer und Chefs zu provozieren, Liebeskummer zu beweinen oder ganz einfach mal "gemeinsam" die Sau rauszulassen.
Wie Götter auf dem Olymp
Gleichzeitig waren diese Wesen, deren Poster die Zimmer jedes Teenagers zwischen Arkansas und Abidjan, Trimmelkam und Tokio schmückten, auch völlig abgehobene Wesen über deren Leben man nur durch hin und wieder gewährte Interviews ansatzweise Bescheid wusste. Das meiste blieb der Fantasie überlassen.
Es war ein wenig wie mit den Göttern auf dem Olymp, um die sich unzählige Legenden rankten. Süßes Nichtstun mit den erlesensten Genussmitteln in Reichweite eines bloßen Fingerschnippens, Pools und Villen, Freundschaften und Intrigen, Liebe, Eifersucht, Rache – und jeder Menge handfester Affären, über die entweder genüsslich oder nur hinter vorgehaltener Hand spekuliert wurde.
Ist George Harrisons Frau jetzt wirklich mit dem Clapton z’am? Stevie hat Lindsey betrogen – ausgerechnet mit dem Drummer, der aussieht wie Rübezahl! Habt ihr von Zeppelins "Mudshark Incident" mit einem Groupie gehört?
Apropos Groupies: Das ist natürlich eine Angelegenheit, die heute zurecht kritisch betrachtet wird. Denn "toxische Männlichkeit" war damals nur deshalb kein Begriff, weil sie eigentlich normal war.
Wo ein Machtgefüge sexuell ausgenutzt wird, hört sich der Spaß auf.
Andererseits waren viele Groupies durchaus empowert, wussten genau, was sie wollten – und wie sie es kriegten. Waren die Backstage-Bereiche der großen Konzerte so etwas wie die für das gemeine Volk verbotenen Bereiche antiker Tempel, dann verkörperten Frauen wie Bebe Buell, Sable Starr, Pamela Des Barres oder Connie Hamzy deren Hohepriesterinnen.
Keine Geheimnisse mehr
Heute muss jeder und jede mehrmals täglich auf möglichst allen weltweiten Plattformen präsent sein – weil er oder sie sonst Gefahr läuft, vergessen zu werden. Ein Video hier, eines da, vielleicht eines mit Katzen oder beim Shoppen, Hauptsache proper.
Für Fantasie und Legendenbildung ist da kein Platz. Auch keiner für Provokation, Arroganz und Rüpelhaftigkeit. Zu groß ist da die Gefahr, sofort ein paar Follower zu verlieren.
Diese möglichst breite Angepasstheit, die alleine eine optimierte Zahl an Klicks und Likes garantiert, spiegelt sich auch in der Musik wider.
Nicht falsch verstehen, Taylor Swift hat wunderbare Songs geschrieben, Billie Eilish sowieso, und dass Ed Sheeran ganz alleine mit einer akustischen Gitarre eine komplette Band ersetzt, ist ein unglaubliches Talent.
Aber eine kathartische Funktion wie Nirvanas berühmter Gitarrenriff nach dem 16-maligen Hello in "Teen Spirit", dem trotzigen that’s what I am! im "Streetfighting Man" von den Rolling Stones oder auch einfach einem aus voller Lunge mitgegröhlten born to be wiiiiiild, haben sie kaum.
Oasis waren vielleicht die letzten globalen Rockstars mit allen ihren Stärken und Bad-Boy-Schwächen. The Strokes versuchten sich darin, die Söhne aus gutem Hause wirkten dabei aber immer ein wenig zu bemüht.
Erstaunlicherweise zeigte in jüngerer Vergangenheit ausgerechnet Miley Cyrus Atitude. Passenderweise sang sie mit Billy Idol, einer Ikone aus der Vergangenheit, "Rebel Yell". Passt.
Kommentare