Jon Batiste im Interview: "Jeder Augenblick zählt"

Von der „Hausband“ in Stephen Colberts Late Show zum mehrfachen Grammy-Gewinner: Die "freizeit" erreichte Jon Batiste in New York zum Interview.

Über Nacht zum Superstar: Jon Batiste war unter Musikern zwar schon lange eine Größe, galt als hervorragender Virtuose und Arrangeur, komponierte Werke für Jazz-Bands und Orchester ebenso wie Filmmusik für Spike Lee – sein großer Durchbruch kam aber vergangenes Jahr bei den Grammys. Ganze fünf Stück nahm er an diesem Abend für sein Album "We Are" mit nach Hause, darunter auch den renommiertesten, nämlich für das Album des Jahres, wobei er Stars wie Taylor Swift und Billie Eilish auf die Plätze verwies. Als erster schwarzer Musiker seit Herbie Hancock (2008) gewann er diesen wichtigen Award, dazu noch einen Oscar für die Filmmusik von „Soul“.

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Mit der "freizeit" sprach der sympathische Musiker über seine Anfänge in einer Künstler-Familie in New Orleans, wie er als 19-Jähriger plötzlich mit Prince auf der Bühne stand, und warum er sich für sein neues Album die legendären Pink Floyd zum Vorbild nahm. Und auch, was das überraschenderweise mit westafrikanischer Tradition zu tun hat. Und auch, was für ihn im vergangenen Jahr WIRKLICH wichtig war.

Mr. Batiste, gleich vorweg eine verspätete Gratulation: 2022, was für ein Jahr für Sie! Elf Grammy-Nominierungen, fünf gewonnen, dazu noch ein Oscar!
Jon Batiste: Ja, vielen Dank. Das Jahr war überwältigend, in jeder Hinsicht.
Macht so ein unglaublicher Erfolg nicht auch enormen Druck? Ich spreche jetzt von Ihrer neuen CD, die eben herausgekommen ist... 
Druck? Nein, gar nicht. Eigentlich im Gegenteil, es wird vieles leichter. Aber das ändert nichts an dem Druck, unter dem ich stehe,  während ich komponiere und im Studio bin...
... Dieser kreative Prozess verlangt mir alles ab. Ich bringe mich da jedes Mal an meine Grenzen, versuche, die Melodien und Arrangements in meinem Kopf zu Papier zu bringen. Da gebe ich wirklich alles. Der Druck kommt also nicht von außen, sondern von innen – den mache ich mir selbst.
Die Anstrengung hat sich ausgezahlt. 21 Songs, etliche, zu denen man praktisch tanzen MUSS, dann wieder wunderbare Balladen wie „Life Lesson“ mit Lana Del Rey – und mit den K-Pop-Girls von NewJeans ist Ihnen auch noch ein potenzieller Sommer-Hit gelungen! 
Sie meinen „Be Who You Are“? Ja, der Song hat schon sonnige Vibes, und er hat auch schon Fahrt aufgenommen. Am Ende des Sommers werden wir sehen ... „Drink Water“ wird derzeit viel auf Social Media geteilt, der ist da also auch noch im Rennen (lacht).
Weil wir gerade bei den einzelnen Songs sind. „World Music Radio“ ist tatsächlich eine musikalische Reise. Funk, Pop, Balladen, westafrikanische Grooves, K-Pop, Latin und spanischer Flamenco und sogar Native American Sounds. Wie kamen Sie auf die Idee, diese vielen Elemente zu kombinieren?
Ganz einfach: Es ist die Musik, die Menschen verbindet. Das sollte eine der wichtigsten Messages sein, gerade in Zeiten, in denen uns so viel zu trennen scheint, wo überall scheinbar unüberwindbare Gräben aufgerissen werden.
Dafür haben Sie diese CD auch als Konzept-Album im klassischen Sinn angelegt, wie ich gelesen habe. Stimmt das?
Das ist richtig, ja. Konzept-Album klingt heute etwas sperrig. So verkopft. Als hätte es nichts mit Popmusik zu tun. Eine Story zu erzählen, die über die drei Minuten eines einzelnen Songs hinausgeht, wirkt in Zeiten von 30-Sekunden-Shorts auf YouTube unendlich mühsam. Wer soll da zuhören?, könnte man fragen.  Aber wenn man etwa Pink Floyds „The Dark Side of the Moon“ betrachtet, eines der berühmtesten Konzeptalben aller Zeiten, dann war das damals durchaus „Pop“. Praktisch jeder einzelne Song ein Hit, der von den Menschen sofort wiedererkannt wurde.
Dafür haben Sie auch einen gewissen Billy Bob Bo Bob erschaffen, der als Erzähler auftritt. Was ist das für eine Figur?
Er ist ein DJ, ein Rebell, ein Einiger, Bewahrer, Geschichtenerzähler. Ein Griot.
Sie beziehen sich mit dem Griot auf die westafrikanischen Musiker? 
Ja genau. In dieser Tradition sind es Musiker, eben die Griots, die Geschichten erzählen, Geschichte weitertragen, über die Generationen hinweg. So wie in Europa zu Zeiten Homers Geschichte, Sagen und Heldentaten zu Musik erzählt wurden.  
Sie befassen sich viel mit westafrikanischer Geschichte und Kultur?
Aber natürlich. Das musikalische Erbe des Kontinents, diese vielfältigen Traditionen sind die Wurzeln für so viele musikalischen Stile, die wir heute hören und lieben. Und das Erbe geht über die Musik hinaus, ist größer. Es ist das Mutterland ... von uns allen.
Ich hatte das Glück, bei einer Produktion in den legendären Bogolan Studios in Bamako, Mali, dabei sein zu dürfen, in dem schon Ali Farka Touré aufgenommen hat...
Wahnsinn – dann wissen Sie ja genau, was ich meine! Die Musik, ja, das ist pure Energie. Positive Energie. Man muss das einmal gesehen haben, vor Ort. Es lässt sich nicht beschreiben, in Worte fassen. Es geht alles um Nuancierung und Intuition, ist hundertprozentig Gefühl, und dabei ist es so unglaublich präzise.
Auch in Ihrer eigenen Familie gibt es eine ausgeprägte musikalische Tradition. Sie standen schon als Kind auf der Bühne, wenn ich mich nicht irre?
Korrekt, mein Vater war Bassist in verschiedenen Bands in New Orleans, hatte auch eine Band mit seinen Brüdern und Cousins, die Batiste Brothers Band. So stand ich schon mit etwa acht oder neun Jahren das erste Mal bei einem Livekonzert auf der Bühne.
Ein Wunderkind am Klavier? 
(lacht) Oh nein! Ich habe damals gesungen und Perkussion gespielt. Mit Klavier begann ich erst ab elf Jahren. Zu Beginn auch nicht sonderlich intensiv. Und so mit 14, 15 begann ich dann, es richtig ernst zu nehmen.
Dann aber dafür sehr ernst, Sie haben zwei Universitätsabschlüsse. Was genau haben Sie studiert?
Jazz-Klavier, Komposition, aber auch klassisches Klavier.
 Dann muss ich Sie in einem Interview für ein österreichisches Magazin ganz einfach fragen: Wer ist Ihr klassischer Lieblingskomponist?
Oh, das ist schwierig, ich liebe sie alle. Mozart, Haydn ... Aber ich fürchte, mein absoluter Lieblingskomponist ist kein Österreicher, sondern Pole: Frédéric Chopin. Wie er seine Melodien entwickelt, ist einfach unerreicht, er war in dieser Hinsicht begnadet. Wenn ich Chopin spiele, vergesse ich alles. 
World Music Radio

Die neue CD des mehrfachen Grammy-Gewinners Jon Batiste: "World Music Radio"

©Universal Music GmbH
Eine Möglichkeit, sich selbst zu vergessen, finden Sie auch an der Spielkonsole, wie Sie in einem YouTube-Clip „gestanden“ haben.
(lacht) Oh Mann, ja das stimmt. Final Fantasy VII ist für mich eines der besten Spiele aller Zeiten. Ich liebe es, hin und wieder in einen anderen Charakter zu schlüpfen, eine andere Welt. Und natürlich 2k-Basketball. Das Einzige, was ich beinahe besser spiele als Klavier. Ich bin da wirklich ein Champ.
Das sollten wir klären, wenn wir einmal an einer Konsole sitzen ...
Oh ja! Spielen Sie gut?  
Nein, ich verliere gegen meinen Sohn.
Genau so soll es sein (lacht).
Aber zurück zum Klavier. Wie kam es, dass Sie als 19-Jähriger schon mit Prince zusammenspielten?
Ich hab damals in New York studiert. Und mit Studienkollegen eine Band zusammengestellt, mit eigenen Stücken. Wir hatten ein Konzert, und wussten gar nicht, dass Prince im Publikum war. Er hat uns gehört – und spontan beschlossen, uns mit auf Tour zu nehmen. Und so standen wir plötzlich mit ihm und der grandiosen Jazz-Sängerin Cassandra Wilson auf diesen riesigen Bühnen ...
 Das muss ein unglaubliches Erlebnis für einen jungen Musiker gewesen sein. Waren Sie nicht wahnsinnig nervös?
Nervös ist der falsche Begriff. Die Songs, die wir spielten, waren musikalisch nicht besonders schwierig – aber die ganze Atmosphäre war wie aus einer anderen Welt. Ich habe wirklich versucht, das alles in mich aufzusaugen und mir zu bewahren. So RICHTIG nervös war ich, als ich ein Jahr später, also 2007, mein eigenes Stück im Amsterdamer Concertgebouw aufführte, und dann mit jungen niederländischen Künstlern in der Carnegie Hall in New York auftrat. Wir, also eine Jazz-Combo, dazu Chor und Orchester. Da war ich wirklich mit den Nerven fertig. Zum Glück ist das schlagartig vorbei, wenn man dann auf der Bühne steht.
Mr. Batiste, bei all ihren frühen Erfolgen kannte man sie in Europa doch in erster Linie als Bandleader für die „Late Show“ mit Stephen Colbert ...
(lacht) Ja, das war in den USA nicht viel anders. Aber es war eine wirklich tolle Zeit, ich kannte Stephen von einer anderen Show, er übernahm 2015 für David Letterman, fragte mich, ob ich dabei sein will, und ich sagte zu.
Und Sie sorgten auch dort für gute Unterhaltung. Spektakulär waren Ihre gemeinsamen Auftritte mit den musikalischen Stargästen. Was waren für Sie die schönsten Momente?
Ja, das war wirklich toll. Mit vielen Musikern entstand eine kaum zu beschreibende Beziehung während dieser Sessions. Unvergessen ist mir  auf jeden Fall Yo-Yo Ma! Das war schon etwas Besonderes. Aber auch mit Mac DeMarco, Yitzhak Perlman, Anderson.Paak und vor allem auch mit Mac Miller, mit dem wir immer wieder zusammengespielt haben, sogar noch kurz vor seinem tragischen Tod, waren es unvergessliche Momente. 
Ich habe dieses Interview mit einer Gratulation begonnen, und will es auch mit einer beenden. Sie haben im vergangenen Jahr Ihre langjährige Freundin Suleika Jaouad geheiratet. Sie litt viele Jahre an Leukämie, weshalb Sie so lange mit der Hochzeit warteten. Wie geht es Ihnen?
Danke, vielen Dank. Ja, in Wahrheit war DAS der wichtigste Moment  des Jahres 2022, nicht die Grammys oder der Oscar. Und nochmal danke, es geht uns so weit gut. Es gab einen Rückschlag letzten Sommer, aber wir hoffen. Suleika ist guter Dinge. Ich bin dankbar, dass es jetzt wieder besser geht. Sie ist ein Wunder, unerschütterlich kreativ und positiv. Sie schreibt, sie malt, spielt Bass. Wenn wir Zeit finden, machen wir gemeinsam Musik. Jeder Augenblick ist schön, jeder Augenblick zählt ...
Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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