Jo&Joe Karaoke, Wien

"Komm sing mit": Warum Karaoke plötzlich so beliebt ist

Was uns lange Zeit in Angst und Schrecken versetzt hat, ist mitten in der Gesellschaft angekommen: öffentlich zu singen. Karaoke-Bars erobern auch das Wiener Nachtleben.

Wien ist anders? Vielleicht ja, aber nicht, wenn’s um Karaoke geht. Denn der Trend schwappte inzwischen auch nach Österreich. Mit ein wenig Verspätung vielleicht, denn, wie die Berliner Musikwissenschaftlerin Martha Brech kürzlich analysierte, "allein zu singen" habe in deutschsprachigen Ländern "einen Peinlichkeitsfaktor", der so im anglofonen, aber auch im slawischen oder romanischen Raum nicht oder kaum vorhanden ist. 

Bei uns singe man normalerweise sogar, wenn man alleine ist "hinter akustischen Vorhängen: also in der Dusche, zum Lärm des Staubsaugers, im Auto oder zu Musik aus dem Radio". 

Und dann soll auch noch jemand zuhören? Um Gottes Willen!

Tatsache ist allerdings, dass nicht nur in San Francisco, New York und Miami, in London und ganz Skandinavien die Zahl der Karaoke-Clubs angestiegen ist, sondern auch in Wien. 

An einer Hand kann man sie längst nicht mehr abzählen, ein Internet-Ranking reiht derzeit die "14 besten der Stadt", und da sind diverse hippe Treffpunkte in den Partyräumlichkeiten einiger Lokale wie dem "Café Kreuzberg" gar nicht berücksichtigt.

Wiens größte Karaoke-Bar ist das "Soho" im 20. Bezirk. Gegründet wurde es 2001, damit ist es auch die älteste der Stadt. Und die modernste.

©instagram.com/soho.karaokebar

Auch ein wichtiger Neuzugang wie das Jo&Joe im IKEA-Haus am Westbahnhof fehlt. Jeden Mittwoch veranstalten dort Ryta Tale und die formidable "Kleinkunstprinzessin" Grazia Patricia einen Karaoke-Abend, der es in sich hat.

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Der Zulauf im "Jo&Joe" ist gewaltig, das Publikum sehr jung und durchaus ausgelassen. Dabei werden auch Peinlichkeiten genüsslich gefeiert – was ihnen wiederum ihren furchterregenden Stachel nimmt.

Denn darum geht's natürlich auch beim Karaoke: "Niemand ist eine Whitney Houston und es wurde auch noch niemand bei einem Karaoke-Abend gecastet", erklärt Simon L von der britischen Karaoke Company. Solche Gedanken stören nur, hemmen, machen Angst.

Bam Karaoke, London

Engländer singen prinzipiell lieber als Österreicher und Deutsche: Das "Bam" ist die größte Karaoke Bar in London. Hier gibt's aber auch die in Asien so beliebten Boxen für alle, die doch nicht wollen, dass ALLE zuhören ...

©Sim Canetty-Clarke

"Niemand sollte so etwas im Hinterkopf haben – es geht einzig um den Spaß, genau in dem Moment", sagt der Experte. Also: Scheiß dir nix

Die Chance, dass jemand lacht, ist natürlich da. Und wenn, auch gut. Mitlachen ist die Devise, Karaoke-Profis legen dann gern einfach nochmal eins drauf. Denn es geht schließlich darum, die Crowd für sich zu gewinnen.

Wer das schafft, erlebt zumindest für die drei Minuten auf der Bühne, wie es ist, ein Star zu sein. Auch wenn er nicht singen kann wie Freddie Mercury. Und höchstwahrscheinlich nicht entdeckt wird. Aber diese drei Minuten kann ihm oder ihr niemand mehr nehmen. Und mit ein paar Auftritten kommt man doch ganz schnell einmal auf die von Andy Warhol propagierten 15 Minuten Ruhm ...

Alte Kiste Karaoke

Eigentlich ist Karaoke ja eine uralte Kiste. 1967 baute der japanische Autoradiounternehmer Shigeichi Negishi ein Gerät, das Musik ohne Gesangsspur abspielen konnte. 

Der Grund: Seine Mitarbeiter hatten ihn wegen seines Gesangs ausgelacht und er wollte beweisen, dass seine Stimme mit der passenden Musik dazu durchaus okay klingt. Er nannte das Teil "Sparko Box" und verkaufte etwa 8.000 Geräte an japanische Bars, die sich dadurch das Geld für Mietgitarristen sparen konnten, die bis dahin singfreudige Barbesucher begleitet hatten. 

Denn: Gesungen hat man in Japan schon immer gerne.

Vier Jahre später entwickelte der Barmusiker Daisuke Inoue mit Hilfe eines Kassettenrekorders, eines Mini-Verstärkers, eines Mikrofons und eines Holzkastens mit Münzeinwurfschlitz ebenfalls ein karaoketaugliches Gerät, für das er gemeinhin als Erfinder der ganzen Sause gehandelt wird. Wobei es den Namen Karaoke, der so viel wie "leeres Orchester" bedeutet, schon davor gab: Für professionelle Sänger, die statt mit Live-Band zu Playback-Aufnahmen sangen. 

Patentieren ließen sich übrigens weder Negishi noch Inoue ihre Erfindungen ...

Die Tradition, dass ganz "normale" Menschen auf Partys, bei Festen oder auch einfach beim Ausgehen die Bühne stürmen, ist, wie gesagt, wesentlich älter als jedes der dafür erfundenen Geräte. Im gesamten asiatischen Raum. Das gilt auch für die Popularität dieses Feierabend-Vergnügens, egal ob in Korea, Thailand, Vietnam oder auch auf den Philippinen, die für einige Experten gar als Land der Karaoke-Weltmeister gilt.

Philippinische Einwanderer machten Karaoke recht früh in Australien bekannt, während es in den USA vorerst eher auf diverse China- und Korea-Towns beschränkt blieb.

In Europa dauerte es dagegen noch länger, bis Nachtschwärmer ein Naheverhältnis dazu entwickelten. Denn viele Jahre war Karaoke nur als Party-Gag oder als Mittel zur Demütigung von Mitarbeitern auf Betriebsfeiern bekannt. 

Ein erstes Hoch erlebte der unterhaltungstechnische Asienimport mit dem Film "Lost in Translation", in dem Bill Murray und Scarlett Johansson einander im Tokio des Jahres 2003 einige Ständchen bringen.

Singen im Separee

Was dabei auffällt: Es gibt in Asien zwar durchaus große Bühnen, auf denen auch Karaoke stattfindet. Wesentlich beliebter sind aber sogenannte "Boxen": Das sind private Räume, meist für sechs bis zwölf Personen, die von Freunden, Familien und Gruppen angemietet werden.

Es gibt natürlich auch größere, etwa für Firmen- oder Klassenfeiern – und kleinere. Zweier- und sogar Einser-Boxen, falls jemand vor einem größeren Auftritt noch ein wenig üben will. Diese "Boxen" werden mittlerweile auch bei uns verstärkt angeboten. 

Ist ja auch lustig, mit Freunden den inneren Rockstar oder die Disco-Queen, die schon immer in einem geschlummert hat, rauszulassen. Das kann ganz schnell ziemlich hemmungslos werden. Der richtige Nervenkitzel ist aber wahrscheinlich doch, in einem vollbesetzten Lokal den Schritt auf die Bühne zu wagen. 

Jo&Joe Karaoke, Wien

Im Jo&Joe sorgen die "Mistresses of Ceremony“, Ryta Tale und Grazia Patricia, für große Show, die auch die Amateur-Performer auf der Bühne einfach mitreißt

©Inês Lacerda

Dazu hat der amerikanische KJ – so heißen die Karaoke-Discjockeys, die oft auch als Showmaster auftreten – Matthew Bacharach einige Tipps parat. 

Erstens: Kenne deinen Song! Nur weil man einen Refrain mehr oder weniger flüssig mitsingen kann, heißt das noch lange nicht, dass man auf dem oft recht langen Weg dorthin nicht sein Publikum verliert, wenn man sich mühsam durch die Strophe haspelt. 

Zweitens, und das gilt für mindestens 90 Prozent der potenziellen Karaoke-Sänger: Finger weg von Balladen. Dazu reicht es meistens einfach stimmlich und gesangstechnisch nicht – und man kann keine Stimmung machen. 

Drittens: Trau dir nicht mehr zu als deine Stimme kann. Whitney und Freddie sind tabu – außer in einer Box mit Familie oder Freunden, wenn alle bei Bohemian Rhapsody mitsingen ...

Wieso gerade jetzt?

Warum Karaoke nach dem beschriebenen Zwischen-Hoch gerade jetzt wieder absolut durch die Decke geht? Daran hat sicher auch die Generation TikTok ihren Anteil. Die teilt seit Jahren ihre Gesangskünste ohnehin mit der gesamten Welt, und die Chance, sich auf einer echten Bühne auszutoben wurde von ihr mit Begeisterung ergriffen. 

Das Schöne daran ist, dass die Kids keine musikalischen Berührungsängste haben und auch an Grunge-, Classic-Rock oder 80s-Abenden ihr Können zum Besten geben. Und mit ihrer Begeisterung auch ältere Semester mitreißen. 

Denn, und da ist sich die Wissenschaft einig: Musik ist nicht nur allgemein gut für uns, sondern besonders aktives Singen fördert den Ausstoß an Glückshormonen, wie eine Studie der Universität von Helsinki erst kürzlich feststellte. 
 

Sid’s Gold Karaoke Club in New York

Coole Atmosphäre - besondere Herausforderung: In Sid’s Gold Karaoke Club in New York begleitet der Hausherr die Sänger höchstpersönlich am Klavier

©sid gold's request room

Was noch auffällt: Vielleicht ist unsere europäische Karaoketradition ja gar nicht so kurz, wie wir glauben. Wir erinnern uns an Schulzeiten im längst vergangenen alten Jahrtausend, Wandertage, Schullandwochen, Skikurse. Irgendwer hatte immer eine Klampfe dabei. Irgendwann saßen dann alle zusammen, es wurde herumgeklimpert, erzählt, geblödelt. Irgendeiner sang dann immer Honky Tonk Woman - und alle sangen mit!

TOP FÜNF Karaoke Bars in Wien

Pop, Rock oder Oldies, in der Gruppe oder ganz allein – auch in Wien findet jeder die passende Bar zum Singen.

  1. Soho Vienna Die modernste Karaoke Bar der Stadt liegt vielleicht etwas uncharmant in der Millennium City, bietet dafür aber satte 35.000 Songs zur Auswahl. Die Show steigt auf der großen Bühne, man darf sich also beweisen. Oder man kommt in einer richtig großen Gruppe mit etwa 50 Personen – dann sollte man aber unbedingt reservieren.
    soho-vienna.at
  2. Jo&Joe Der absolute Aufsteiger – auch wegen der beiden "Mistresses of Ceremony" Ryta Tale und Grazia Patricia. Große Show, die auch die Amateur-Performer auf der Bühne einfach mitreißt. Gesungen wird nur einmal die Woche, am Mittwoch. Das Publikum ist eher jung, aber auch Newcomern und älteren Semestern gegenüber herzlich.
    joandjoe.com
„Babuder’s“ am Tiefen Graben

Im "Babuder’s" am Tiefen Graben gibt’s von Mittwoch bis Samstag beste Karaoke-Stimmung

©babuders

3. Babuder’s Stil ist selbstverständlich am Tiefen Graben in der Innenstadt – und dazu gibt’s mehr als 30.000 Songs, die man sich ganz einfach per Handy aussuchen kann. Auf Wunsch wird auch ein Video mitgefilmt. Tolle Atmosphäre und immer wieder auch Promis, die sich hier einen Spaß erlauben und den inneren Rockstar rauslassen.
babuders.at

4. Shangrila Karaoke Das Beste zweier Welten gibt’s im Franzosengraben im 3. Bezirk. Hier kann man der "exhibitionistischen" europäischen Version frönen und im Hauptraum sein Glück vor allen anderen Gästen versuchen – oder man bucht einen der wirklich lässig gestalteten Nebenräume für 10-35 Personen. Hier gibt’s also klassische asiatische "Boxen".
shangrila-karaoke.at

5. Mai Kai Gemma Lugner? Warum eigentlich nicht! Orientalisches Flair und Küche, dazu Cocktails – und vor allem super Stimmung bei den täglichen Karaoke-Abenden, die freitags und samstags auch bis 4 Uhr früh dauern können. Zwei Mal wurde schon ein Weltrekord für Dauer-Karaoke Singen aufgestellt. Jeden Mittwoch steigt eine Bierparty. 
mai-kai.at 

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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