Warum Gedächtnistraining so wichtig ist.

Warum wir unser Gedächtnis laufend trainieren sollten

"Es ist nie zu spät": Ein Neurologe erklärt, wie man sich auf die Schnelle Namen besser merken und sein Gedächtnis trainieren kann.

In einer Welt, in der wir uns zunehmend auf Technologie und digitale Hilfsmittel verlassen, rückt das eigene Gedächtnis manchmal in den Hintergrund. Telefonnummern, Geburtstage, Einkaufslisten und Termine werden inzwischen einfach auf unserem universellen Wissensspeicher in der Hosentasche, dem Smartphone, abgespeichert.

Warum unser eigenes Gedächtnis weiterhin unerlässlich ist und wie wir es mit gezieltem Gedächtnistraining trainieren können, erklärt Neurologe und Gedächtnisweltmeister Boris Nikolai Konrad im Interview. 

Zudem gibt er hilfreiche Tipps: Wie merke ich mir eine Einkaufsliste? Wie präge ich mir in sozialen Situationen Namen ein?

In Ihrem Buch "Mehr Platz im Gehirn" schreiben Sie, unser Gedächtnis sei nicht für moderne Informationsverarbeitung gemacht. Was genau meinen Sie damit?

Den modernen Menschen gibt es je nach Schätzung etwa 200.000 bis 300.000 Jahre, aber wir sprechen erst seit 100.000 Jahren. Schrift gibt es wenige Tausend Jahre und moderne Medien sind im Laufe unseres Lebens erfunden worden. Unser Gehirn konnte sich, was evolutionäre Entwicklungen angeht, gar nicht an das anpassen, was heute da ist. Meine Oma wurde 1925 geboren, da war noch nicht einmal der Fernseher erfunden worden.

Einkaufslisten, Geburtstage, Telefonnummern und Passwörter haben die meisten inzwischen auf dem Smartphone gespeichert. Müssen wir uns überhaupt noch irgendetwas selbst merken? Kann das nicht die Technologie für uns übernehmen?

Wir können vieles abspeichern und auch ich nutze das Telefonbuch in meinem Smartphone gerne. Sehr praktisch! Aber das menschliche Gedächtnis ist nicht nur ein Speicher wie eine Festplatte, es ist auch ein wesentlicher Teil unserer Identität und Persönlichkeit. Wir lernen immer, weil jede Aktivität im Gehirn neue Verbindungen bedeutet. Was wir an die Technologie auslagern, kommt aber nicht mehr in den Verbindungen unseres Gehirns an. Heute navigieren wir mit dem Navi, praktisch. Aber der eigene Orientierungssinn kann leiden.

Bei einer Telefonnummer oder Pin gibt es nichts zu verstehen. Aber wenn es um andere Inhalte geht, wird es schnell wichtig, dass wir Muster erkennen, Zusammenhänge verstehen, um etwa kreative Lösungen zu finden. Es gilt also: Trotz der technologischen Fortschritte bleibt unser eigenes Gedächtnis unerlässlich und wir sollten es nutzen!

Welche Vorteile hat es, das Gedächtnis zu trainieren?

Viele. Aus meiner Sicht die wichtigsten sind, das Gedächtnis bewusst einsetzen zu können, Methoden zu haben mit Informationsflut und -vielfalt umzugehen und das Gedächtnis langfristig fit zu halten.

Wer Gedächtnistechniken übt, erweitertet seinen gedanklichen Methodenkoffer, seine Toolbox. Anders als beim Fitnesstraining geht es nicht darum, dreimal die Woche eine Stunde zu üben. Es geht darum zu wissen, wie man das eigene Gedächtnis zielgerichtet und sicher einsetzt. Auch sehr nützliche Leistungen wie das Merken von Namen, das freie Präsentieren, das Behalten von Inhalten aus Meetings etc. basieren darauf. Das führt dann langfristig auch zu mehr Ideen, mehr Verständnis und mehr Selbstvertrauen.

Zugleich ist durch die Anwendung das bewusste Üben weniger wichtig. Um im Fitnessclub-Beispiel zu bleiben: Umzugshelfer brauchen eher kein Hanteltraining, wenn es um die eigenen Muskeln geht. Wer das im Alltag nicht hat, für den ist Training zu empfehlen.

Und fit bleiben sollten wir nicht nur körperlich! Der Spruch "use it or lose it" gilt da für Muskeln wie das Gedächtnis. Wer sein Gedächtnis trainiert, verbessert die eigenen Chancen auch im hohen Alter ein gesundes Gedächtnis zu haben, weil die so genannte kognitive Reserve aufgebaut wird.

Sie sind mehrfacher Weltmeister im Gedächtnissport und können sich in einer Viertelstunde 200 Namen merken. Kann sich das jeder antrainieren und wie?

Jeder kann trainieren das eigene Gedächtnis enorm zu verbessern, gerade beim Namen merken. In unseren Studien mit Gedächtnissportlern waren selbst die schwächsten im Namen merken besser als die besten Untrainierten.

In den Studien, in denen wir Menschen die Techniken beigebracht haben und diese dann trainierten, haben unsere Teilnehmenden im Schnitt in nur sechs Wochen ihre Leistung in Aufgaben wie dem Wörter merken rund verdreifacht. Alle Teilnehmende hatten deutliche Verbesserungen.

Am Ende gibt es jedes Jahr bei der WM im Gedächtnissport nur ein Team und eine Person die gewinnen. Weltmeister werden kann also nicht jeder. Und auch in jeder Trainingsgruppe liegen welche vorne und andere hinten. Aber alle verbessern sich deutlich, das sollte die Motivation sein!

Wie gehe ich zum Beispiel vor, wenn ich mir schnell eine Einkaufsliste merken möchte?

Am besten mit der Routenmethode: Hierzu wird ein Weg mit festen Punkten durch die eigene Wohnung vorbereitet. Zum Beispiel in der Küche: Kühlschrank, Ofen, Kaffeemaschine, Spüle, Mikrowelle. Möchte ich mir nun Milch, Bananen, Radieschen, Gurken und Seife merken, stelle ich mir lustige, absurde und im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdige Bilder vor: Aus dem Kühlschrank laufen große Mengen Milch, im Ofen stinken die verbrannten Bananen, die ich darin vergessen habe, ein Scherzkeks hat Radieschen statt Kaffeebohnen in die Maschine getan, lustige Gurken tanzen in der Spüle und in der Mikrowelle schäumt ein Stück Seife über. Bei mehr als fünf Dingen, gehe ich einfach länger durch die Wohnung. Kämen Sie nach Hause und würden all das sehen, hätten Sie ein ernstes Wort mir Ihren Kindern und würden das zugleich nie mehr vergessen. Nur vorgestellt bleibt es genauso gut im Gedächtnis.

Diese kurze Beschreibung klingt sicher etwas lächerlich. Eine kurze Beschreibung kann nur einen Einblick geben. In meinen Seminaren nehme ich mir zwei Stunden, um die Technik einzuführen, in meinem Onlinekurs ist die ähnlich zentral. Und ich bin trotz vielen Jahren Erfahrung jedes Mal wieder beeindruckt und glücklich, wie begeistert meine Teilnehmenden sind, wenn sie bei sich selbst erleben, wie gut das funktioniert.

Wenn wir uns, zum Beispiel bei einer Party, mehreren Personen vorstellen, haben wir die Namen meist wenige Augenblicke später schon wieder vergessen. Wie kann man in solchen sozialen Situationen das Gedächtnis besser einsetzen?

Im ersten Schritt sollte man sich wieder vornehmen, sich die Namen auch zu merken. Bei jedem Namen sollte man diesen dann einmal aussprechen: "Monica, schön dich kennen zu lernen." "Herr Jauch, hallo!", "Frau Gradistan, habe ich das richtig verstanden?"

Im nächsten hilft auch hier das Denken in Bildern. Monica stelle ich mir vor, wie sie verträumt den Mond ansieht. Herrn Jauch zusammen mit Günther Jauch und bei Frau Gradistan teile ich es auf und stelle mir vor: Sie schaut auf ein Thermometer, um zu sehen wie viel "Grad ist" draußen. Da es kalt ist, zieht sie noch eine Jacke an. Grad ist an.

Gewöhnt man sich dies so an, kommen entsprechende Ideen auch immer schneller. Dann ist auch eine große Party kein Problem mehr!

In Ihrem Buch stellen Sie unterschiedliche Techniken zum Gedächtnistraining vor. Sind diese eigentlich nur ans Kurzzeitgedächtnis gerichtet oder können Sie sich die 200 Namen auch ein Jahr später noch merken?

Die Techniken sind für das Langzeitgedächtnis. Tatsächlich haben wir in unseren Studien auch mit wissenschaftlichen Methoden zeigen können, dass direkt ins Langzeitgedächtnis gelernt wird. Das heißt leider trotzdem nicht für immer. Die 200 Namen wusste ich sicher auch einige Tage später noch, aber ein Jahr danach nicht mehr.

Der entscheidende Punkt für die Langfristigkeit ist richtiges Wiederholen. Klingt langweilig, ist aber faszinierend, da fast alle völlig überschätzen wie viel Wiederholung nötig wäre. Am wichtigsten: Wiederholung sollte immer heißen, sich selbst abzufragen. Nicht es noch mal lesen. Auch bei Namen muss ich die Menschen nicht nochmal sehen. Aber es für mich noch einmal durchgehen - und zwar schnell!

Die sogenannte Gedächtniskonsolidierung passiert vor allem in den ersten Nächsten nach dem Lernen im Schlaf. Daher sollte noch am gleichen Tag und am Tag danach alles, was wirklich dauerhaft ins Hirn soll, wiederholt werden.

Bei Bedarf kann ich mir so auch sehr viele Namen langfristig einprägen. Bei denen aus dem Gedächtnissport mache ich das nicht, bei Menschen, die ich persönlich kennen lerne und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch wieder sehe, schon.

Gibt es Übungen, die jeder täglich in den Alltag einbauen kann, um das Gedächtnis zu trainieren?

Ein paar kurze Tipps sind, sich selbst Herausforderungen stellen, also z.B. mal beim Lesen einer Zeitung oder eines Magazins die Namen der interviewten oder vorgestellten Personen lernen. Sich beim Lesen Bilder vorstellen, egal ob es E-Mail oder Bücher sind.

Wer wirklich was tun möchte, dem empfehle ich dann die genannten Gedächtnistechniken sehr, wie die Routenmethode. Mit ein paar Minuten am Tag kann das Gedächtnis dann stark verbessert werden. In meinem Buch habe ich das etwa auf ein 30 Tagesprogramm reduziert. Einen Montag Jeden Tag eine Übung von ein paar Minuten und ein paar Mal etwas länger. Das bringt richtig was!

Viele Menschen haben Angst, eines Tages an Demenz zu erkranken. Kann Gedächtnistraining der Krankheit vorbeugen?

Gedächtnistraining ist meiner Überzeugung nach sehr gut zur Prävention geeignet, aber ein paar Grenzen sind wichtig. Es sollte dabei um Gedächtnistraining mit Gedächtnistechniken gehen, Strategien das Gehirn sinnvoll zu fordern. Das Training des Arbeitsgedächtnisses hatte eine Zeit lang einen Boom, hat aber in einigen Studien nicht wirklich überzeugen können.

Und dann ist wichtig so ehrlich zu sein, dass die Krankheit wohl nicht verhindert wird. Wie wir das Gehirn einsetzen, ändert die Pathologie, also krankhafte Veränderungen im Gehirn, nicht. Aber wir bauen durch Gedächtnistraining eine sogenannte kognitive Reserve auf. Mögliche Symptome einer Demenzerkrankung können so deutlich verschoben werden, treten evtl. erst Jahre später auf.

Auch wenn die Krankheit also nicht gestoppt wird, so kann doch viel Lebensqualität gewonnen werden! Das bringt aber vor allem in der Vorsorge etwas. Ist die Krankheit schon diagnostiziert, ist es zu spät.

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