JOMO ist jetzt im Trend

JOMO: Wieso wir endlich wieder nichts tun dürfen

Angst, etwas zu verpassen? Das war gestern. Der neueste Gesellschaftstrend feiert den Verzicht. Wieso es nun cool ist, langweilig zu sein.

Heute eine Geburtstagsparty, morgen ein Konzert, übermorgen der Ausflug an den See. Manchmal macht bereits der Anblick des Terminkalenders müde. Und doch, Absagen geht nicht. Man könnte doch etwas verpassen, oder?

Seit dem Aufkommen von Social Media vor zwanzig Jahren – nicht unwesentlich vorangetrieben durch die Gründung von Facebook 2004 – hatte uns FOMO fest im Griff, the fear of missing out, die Angst, etwas zu verpassen. Ganz leicht war es damals auf einmal, Partyeinladungen zu verschicken und zu erhalten. Und vielleicht zu leicht, mitzubekommen, was die anderen so erlebten, wo sie sich herumtrieben. Und wo man, in der Folge, selbst sein sollte. Schließlich wollte man kein Langweiler sein. 

Bis jetzt. 

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Das Nichtstun nicht erwarten können

"Ich kann es kaum erwarten, die nächste Sache zu verpassen", schrieb die amerikanische Autorin Jenn Todryk im Dezember auf Instagram - und bereitete damit "JOMO" den Weg, the joy of missing out. Denn ihre Freude am Verpassen dürften viele teilen. Ihr Post hat heute 205.000 Likes.

Geprägt hat Jenn Todryk den Begriff JOMO dabei nicht. Das war Anil Dash, ein amerikanischer Software-CEO, bereits vor gut zehn Jahren; 2019 erschien dann ein gleichnamiges Buch vom dänischen Psychologen Svend Brinkmann. Und doch scheint die Mentalität des Rückzugs in Europa erst jetzt anzukommen. Sowohl der britische Guardian oder die BBC also auch die deutsche Zeit widmeten sich zuletzt ausführlich der Freude am Verpassen. Dem entspannenden Nichtstun, bei dem man nichts leisten, nichts erfüllen, nichts schaffen muss.

Aber warum erlauben wir uns das wieder?

"JOMO", meint Psychotherapeutin Ines Gstrein vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie, "ist die logische Konsequenz von FOMO, der Angst etwas zu verpassen". Denn: "Wir sind übersättigt." Bis oben gefüllt mit Informationen, mit Reizen, mit Möglichkeiten. 

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"Wenn man sich früher ein Magazin, vielleicht die Gala, gekauft hat, dann war irgendwann die letzte Seite gelesen. Jetzt kann man auf Instagram scrollen und scrollen und kommt zu keinem Ende. Raum- und Zeitgefühl gehen dabei zu oft verloren.” 

Social Media habe ein enormes Tempo und eine massive Dichte erzeugt - online wie offline. 

Die Anstrengung der Entscheidungen

"Und das kostet ja alles Energie", ergänzt Wirtschaftspsychologin Christina Beran. "Jede Entscheidung bedeutet Anstrengung." Will ich dieses Kleid? Greife ich zu diesem Getränk oder einem anderen? Klicke ich in dem Artikel auf den weiterführenden Link? Die ständige Reizüberflutung hat uns nicht nur erschöpft, sie hat zum Teil unseren Selbstwert gemindert und mitunter depressive Stimmungen ausgelöst. Doch wofür?  "Wenn ich erkenne", meint Psychologin Beran, "dass mir auch die 37. Party nichts bringt, dann kann ich sie auch mal bleiben lassen."

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Ein wenig haben wir den Paradigmenwechsel vielleicht der Pandemie zu verdanken. "Damals waren wir zum Stillstand gezwungen", sagt Psychotherapeutin Gstrein. Wir haben unter anderem Brot gebacken und Brettspiele gespielt und dabei vielleicht erkannt: Oh, das tut gut. 

"Wenn ich eine Netflix-Serie am Stück schaue, weiß ich manchmal schon Tage später nicht mehr, worum es eigentlich ging", sagt sie. "Aber wenn ich mich an die Serie 'Falcon Crest' aus meiner Kindheit erinnere, dann sehe ich meinen Vater neben mir auf der Couch sitzen, ich habe den Geruch der Decke in der Nase und erinnere mich an ein feines, vertrautes Gefühl. Alles ist noch da." Weil sie präsent war, mit allen Sinnen. 

Und das erlauben wir uns nun wieder. Weg von einem automatischen Klick in die Online-Welt, hin zu einer bewusst getroffenen Entscheidung: Will ich das eigentlich? Möchte ich zu diesem Event - oder eigentlich lieber daheim auf der Couch entspannen, ein Buch lesen, oder vielleicht sogar: einfach nur vor mich hin träumen?

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Wir verpassen ständig etwas

Sorge, dass wir durch den Rückzug asozial werden könnten, brauchen wir nicht haben, meint Psychologin Beran: "Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und", ergänzt sie, "ist in sozialen Medien Unterwegs-sein überhaupt sozial, oder ist das bloß ein Konsumieren? Im Wesentlichen geht es um die Frage: Was macht mich satt: Sind das 57 Partys, sind das 1.000 Likes oder 1 Gespräch?"

Die Angst vor dem Verpassen war ja eigentlich irrational: "Wir verpassen immer etwas. Bei jeder Entscheidung, die wir für etwas treffen, entscheiden wir uns ja auch gegen etwas." Und so gesehen ist JOMO weniger ein neuer Trend, als die Rückkehr zur Norm. 

Zum Wieder-Anerkennen des Unumgänglichen.

Und dabei die bewusste Entscheidung: einfach zu sein.

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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