Warum wir mehr auf stille Menschen hören sollten
Wer laut ist, wird gehört, leise Worte gehen oft unter. Der irische Film "Das stille Mädchen“ nimmt mit in die Welt der schüchternen Cáit. Ein guter Anlass, um zu zeigen, was Introvertierte ausmacht. .
Cáit beobachtet. Sie sieht die Baumkronen zu einem grünen Band verschmelzen. Sie nimmt den leeren Kühlschrank wahr und ihr neugeborenes Geschwisterchen. Sie hört das Geläster der Schulkinder, als jemand Milch über sie kippt.
Aber Cáit sagt nicht viel. Sie setzt an, zum Satz, zur Frage, und sinkt dann doch in sich zusammen. Deswegen wird sie zur Tante auf den Bauernhof abgeschoben. Doch in dem Haus, das anfangs furchtbar leer ist, findet sie die Ruhe, Zeit und Raum, sich zu entfalten.
„Das stille Mädchen“, nach einem Buch von Claire Keegan ist der erste irische Film mit Oscar-Nominierung, derzeit in ausgewählten österreichischen Kinos zu sehen und ein Plädoyer für die Stille, an die nicht nur in der Adventzeit erinnert werden sollte. Nicht nur weil die Gruppe der leisen, ruhigen, introvertierten Menschen ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Sondern weil ein Innehalten zwischendurch für alle von Vorteil sein kann.
Denn das oft mit Lärm und Aufregung verbundene Tempo, an das wir uns so gewöhnt haben, führt nicht unbedingt zum Erfolg. „Unsere Welt ist so voll von Reizen, so gefüllt mit Vielem“, sagt die Wiener Psychologin Christina Beran, dass wir gar nicht mehr mitbekommen, wie schnell sich das Rad dreht. Wir erwarten ständige Verfügbarkeit und müssen diese selbst erfüllen: Wir beantworten geschwind noch ein E-Mail, sagen Ja zur nächsten Veranstaltung, stopfen noch einen Termin in den Kalender.
Schnelle Oberflächlichkeit
„Diese dauernde Bereitschaft zwingt uns zur Reaktion“, sagt Beran. Wir reagieren automatisch, wenn es schnell gehen muss. Das benötigt zwar vordergründig weniger Energie, es mangelt dann aber womöglich an Tiefe.
Um die komplexen Fragen unserer Zeit zu lösen, wäre es hilfreich, Logik, Empathie und Reflexion in unsere Überlegungen miteinzubeziehen. Das dauert länger, doch durch das tiefe Nachdenken kommen Lösungen anderer Qualität.
Derjenige, der in Ruhe innehält, verliert also gar nicht. Vielmehr ist das Abwarten und Zuhören eine Eigenschaft, die sich laute von leisen Menschen abschauen könnten.
Introvertierte, so bestätigen Analysen, denken anders. Eine aktuelle Harvard-Studie zeigt etwa auf, dass die Gehirne introvertierter Menschen generell eine dickere graue Substanz (die im zentralen Nervensystem für die Kontrolle von Bewegung, Gedächtnis und Gefühle verantwortlich ist) haben als jene extrovertierter Menschen. Eine weitere Studie ergab, dass das Gehirn introvertierter Menschen selbst in entspanntem Zustand aktiver war und einen höheren Blutfluss aufwies.
Mut zur ruhigen Stimme
Eine, die weiß, wie sich Schüchternsein anfühlt, und anderen Mut machen möchte, dennoch die eigene Stimme zu nutzen, ist die Britin Nadia Finer. In ihren Büchern „Shy and Mighty“ (dt. Schüchtern und mächtig) sowie „Shy and Mighty for Kids" erzählt sie von ihrem Weg, dem „Tyrann Schüchternheit“ den Kampf anzusagen.
Prägend war die Rede vor Schulkindern. "Es war so gruselig. Aber dann hatte ich diesen Gedanken: Menschen hören nicht oft von Leuten wie mir. Wenn ich es nicht tue, wird den Jugendlichen diese ruhigere Stimme vorenthalten.“ Und so empfiehlt sie all jenen, die sich ein wenig aus ihrer Welt herauswagen möchten: ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlen. Und dann einen Nutzen, einen Zweck zu finden, der die Angst überwiegt.
Uns Stillen wird oft das Gefühl gegeben, wir sind kaputt. Die Leute sagen: ,Sei doch nicht so schüchtern!‘ Aber ich will mich ja gar nicht ändern. Jedenfalls nicht mehr.
Denn heute kennt Finer ihre Stärken: Sie kann gut zuhören, beobachten, Situationen analysieren, ihre Gedanken schriftlich festhalten.
„Na, sie ist aber ein ruhiges Mädchen“, sagt die tratschfreudige Úna im irischen Film „Das stille Mädchen“. Der anfangs distanzierte Pflegevater Seán wirft ihr daraufhin einen vernichtenden Blick zu, bevor er antwortet: „Sie sagt genau so viel, wie notwendig ist. Möge es doch mehr wie sie geben.“
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