Am Brennpunkt: Keramik ist so gefragt wie noch nie
Ob rustikales Einzelstück vom lokalen Keramiker oder Service mit Traditionsdekor aus der königlichen Porzellanmanufaktur: eine Inventur.
von Nicola Afchar-Negad
Mit Stand Ende November hatten wir über fünfzig Personen, die fünf oder zehn Stunden die Woche bei uns eingemietet waren. Damit sind wir ausgebucht“, erklärt Anouk Siedler vom offenen Wiener Keramikstudio „rami“. Das Studio spricht so genannte Co-Maker an, also Keramiker mit Erfahrung. Viele von ihnen bieten ihre Stücke zum Kauf an, nicht mittels schicker Onlineshops, sondern auf Nachfrage, gerade Instagram eignet sich hierfür ideal. Jetzt im Dezember launchte das „rami“-Team zudem eine eigene Teelinie.
Wenn sich mehr als fünfzig unabhängige Keramikkünstler in einem einzigen Wiener Studio die Töpferscheiben teilen, kann man sich ausmalen, wie groß das Thema in den vergangenen Jahren geworden ist. Keramik selbst herzustellen ist „das neue Yoga“, sagen manche und meinen damit, dass Töpfern etwas ist, das bald schon fast jeder zumindest ausprobiert hat. Man kann auch sagen, handgefertigte Keramik ist „das neue Ledersofa“, beide begleiten einen im Bestfall über Jahrzehnte.
Steingut ist gut
Wir finden: Schöne Tablewear wird langsam endlich zum Standard, wie es in anderen Ländern – allen voran Japan – schon längst der Fall ist. Gerade Steingut hat sich eta-bliert, sowohl in der Gastronomie als auch für den Hausgebrauch. Das Material wird nicht ganz so hoch gebrannt wie Porzellan, ist dadurch poröser, wirkt kantiger, natürlicher, ein wenig rustikal. Oft sind es kleine Kollektionen oder Serien, die schnell vergriffen, dafür aber in kaum einem anderen Haushalt zu finden sind. Die Farben sind oft erdig und nach einem Glanz-Hype immer häufiger matt, Pastell ist und bleibt beliebt, Farbverläufe wurden überstrapaziert. Merke: Dunkle Teller ermöglichen interessante Kontraste beim Anrichten der Speisen, dunkle Gerichte bekommen so eine ganz neue Tiefe.
Die Designs sind zeitgemäß, insbesondere lachende Gesichter auf großen Tellern kommen in Pandemie-Zeiten offensichtlich gut an – die runde Form legt solche Spielereien auch nahe. Farbe ist fast immer mit dabei und wenn nur um Akzente zu setzen. Ein gutes Beispiel: die Tasse „Stanley“ aus dem Leipziger Studio „Papaya“. Der leuchtend orange Griff macht das Stück zum „Haben mag“-Objekt. Im Falle der Kollektionen von Johanna Lotz and Verena Deist muss man allerdings den richtigen Zeitpunkt erwischen, denn die Arbeitsweise der beiden ist unique, wie Deist berichtet. „Wir haben zu Corona-Zeiten gemerkt, dass es für uns am besten funktioniert, wenn wir unseren Online-Shop nur alle zwei bis drei Monate für eine gewisse Zeit öffnen und nicht dauerhaft bestücken. Wir nehmen uns also immer circa zwei Monate zum Produzieren, bauen einen Stock auf und launchen dann alles auf einmal.“
Im „Studio Papaya“ setzt man auf Minimalismus gespickt mit einzelnen exzentrischen Stücken, und genau das funktioniert auch zuhause perfekt. Schalen und Kaffeebecher sind typische Einsteigerprodukte.
Kintsugi: Unperfekter Stilbruch
Das nicht reproduzierbare, das perfekt Unperfekte ist eine neue Art des Luxus in einer Zeit, in der oft alles viel zu glatt wirkt, in der Fotos ohne Filter wie Fake wirken. Der Makel gewinnt an Faszination, davon zeugt auch „Kintsugi“, was übersetzt aus dem Japanischen soviel bedeutet wie „Goldflicken“. Bei der seit dem 15. Jahrhundert bekannten Handwerkskunst werden zerbrochene Keramikstücke mit Gold restauriert – allerdings so, dass man es auch sieht. Das ist der Witz an der Sache. Wie neue Lebenslinien zieht sich das Gold durch die Teller. Die Bruchstellen werden betont statt versteckt. Dafür eignen sich besonders exquisite Porzellanstücke, so hat etwa die Berliner Künstlerin Eva Lenz-Collier Hand an die KPM-Schale „Urbino“ gelegt. Das Resultat: elegant und nonchalant zugleich. Freilich wäre es nicht nötig gewesen zu flicken, offeriert die „ KPM Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin“ doch eine lebenslange Nachkaufgarantie. Und das Versprechen hält, besteht die Manufaktur doch bereits seit über 250 Jahren und ist der älteste noch produzierende Handwerksbetrieb der deutschen Hauptstadt.
Porzellan gilt als weißes Gold, es wird als edel und fein tituliert und Sprichwörter wie „viel Porzellan zerschlagen“ manifestieren den Eindruck der zerbrechlichen Schönheit. „Wir arbeiten stetig daran, dass Porzellan alltagstauglich ist und erkennen auch ganz klar einen Trend dahin“, stellt Theresa Haala-Hirt, Head of Communications bei KPM, klar. Mit Produkten wie dem Coffee-to-go-Becher (auch personalisiert) und der Currywurstschale sowie spannenden Kooperationen bricht man mit Erwartungen – erfolgreich. „Porzellan ist deutlich unempfindlicher als man vermutet.“ Das hängt mit der hohen Brenntemperatur zusammen. „Für klassisches „Sonntagsservice“ haben die meisten keinen Platz mehr und warum nicht jeden Tag das gute Geschirr nutzen?“ stellt Haala-Hirt eine nicht nur rhetorische Frage. Auch Mix & Match ist nicht tabu, „wir kombinieren gerne mit Holz, Stahl und Glas“.
Bei aller Lockerheit: Der Produktionsprozess ist sakrosankt. 220 Mitarbeiter, 40 davon in der Meistermalerei. Handarbeit, die von Grund auf gelehrt und gelernt wird und ein Bekenntnis zur Herkunft, das sich auch in den freihändig bemalten Dekoren widerspiegelt. Das zieht, gerade auch während der Pandemie, wo „Sanctuary at home“ Trend ist. Obwohl es für das Luxusprodukt gerade während des ersten Lockdowns nicht einfach war. „Aber wir haben treue Kunden, die die Zeit genutzt haben, das eine oder andere Porzellanstück zu ergänzen.“
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