Warum ein Mann 10.000 Schals sammelte - und keinen davon trägt
Hermès-Designer Benoit Pierre Emery entwickelte aus Zufall eine Obsession. Sein Motto: "Ein Schal ist Kunst." Ein neues Buch beweist es.
Manchmal entsteht eine Obsession aus Zufall. Sie passiert praktisch. Und plötzlich kann man nicht anders als, sagen wir, unaufhörlich Schals zu kaufen. Nicht Porzellanfiguren oder Schuhe – Schals.
Benoit Pierre Emery ist genau das passiert. Seine Obsession entsprang der Geometrie. "Ich hatte eine Faszination für das Quadrat als Textilobjekt entwickelt", verrät er im Gespräch. Sammeln, sagt er, sei niemals der Plan gewesen. Es kam anders: Zehntausend prachtvolle Schals besitzt er heute. Um den Hals trägt er keinen einzigen davon.
Den Grundstein seiner Sammlung legte ein Schal von Christian Dior aus den Siebzigerjahren. 2001 kaufte Emery ihn, ziemlich unglamourös auf eBay, für 30 Dollar. Ein Spottpreis.
Seine Begeisterung für die auserlesenen Halstücher entstand jedoch bereits viel früher: Ein Leinenschal von Picasso, den dieser 1954 für den Weltjugendtag in Berlin kreiert hatte, hing stolz auf einer Staffelei im Wohnzimmer seines Onkels.
Um Emery, heute 54 Jahre alt und Kreativdirektor des Modehauses Hermès (er ist zuständig für "Objets et La Table", das Design von Tischgeschirr), war es geschehen. Später sollte er sogar seine eigene Seidenschal-Kollektion herausbringen. Immer mehr wurde ihm bewusst, welch immense Kreativkraft die Tücher bergen. "Als ich Schals von großer Modernität und formaler kreativer Radikalität entdeckte, war ich fasziniert", erzählt er. "Meine Neugierde trieb mich dazu, immer wieder nach neuen Stücken zu suchen."
Schals von Dior bis Picasso
Die schönsten, einfallsreichsten, fantastischsten aus seiner Sammlung zeigt der französische Designer nun in einem Buch: "Carré. A Vintage Scarf Collection" konzentriert sich ganz auf die hypnotische Kraft einprägsamen Designs: In quadratischen Feldern zeigt es Muster mit symmetrischen Formen ebenso wie psychedelisch verspielte Entwürfe. Es sind die Tücher berühmter Modeschöpfer wie Yves Saint Laurent, Hermès oder Balenciaga zu finden, aber auch anonymer Herkunft. Und es birgt Exemplare bedeutender Künstler wie Picasso, Sonia Delaunay, Victor Vasarely oder Enzo Mari.
Schals wie Gemälde
Kann ein Schal also tatsächlich Kunst sein? Ein zwar modisches Accessoire, aber dennoch eines, das zuvorderst dem Zweck dient, bei kühlen Temperaturen den Hals zu wärmen? Benoit Pierre Emery ist felsenfest davon überzeugt, dass die Antwort auf diese Frage mit Ja zu beantworten ist.
"Wenn wir davon ausgehen, dass ein Kunstwerk ein mit Tinte beschriebenes Trägermaterial ist", erklärt er, "und dass es das Ausdrucksfeld eines Individuums ist, das eine neue Art der Darstellung durch Zeichen, Muster oder Farbenspiel erforscht, dann mit Sicherheit."
Die in den zwei Buchbänden vorgestellten Schals spiegeln auch viele künstlerische Bewegungen des 20. Jahrhunderts wider. Pop-Art ebenso wie Op-Art, jene Stilrichtung der Sechziger, die auf optische Effekte mittels geometrischer Muster setzt. Minimal Art, Pointillismus, Farbfeldmalerei, Arte Povera – all diese Kunstrichtungen fließen mit ein.
Der Schal, zu nichts weniger ruft Emery auf, soll als solches neu entdeckt werden. Nämlich als einzigartiges Designobjekt. "Ich hoffe, das Buch führt zu einer Wahrnehmung des Schals, die mit jener der Malerei vergleichbar ist."
Emerys Liebe zum Schal entstand, als er am Royal College of Art in London Druckgrafik studierte. Den Seidendruck zu entdecken, sei wie "eine Offenbarung" für ihn gewesen. "Die Kraft der Farben, die Leichtigkeit des Materials, seine Fließfähigkeit sowie die quadratische Form haben mich stark beeindruckt. Es ist zu einer Art Idealobjekt geworden."
Schals und Tiefkühlpommes
Wie bei jedem Sammler forderte seine Leidenschaft Eifer, Sorgfalt und Geduld ein. Bei seiner Suche ging er nach drei Kriterien vor: Modernität, grafische Verwegenheit und eine gewisse formale Strenge benötigten Schals, die es in seine Kollektion schaffen wollten. "Vieles habe ich in Vintage-Boutiquen, Auktionshäusern und im Internet entdeckt", erzählt der Designer. Im Ausland knüpfte er Kontakte zu Verkäufern, die ihn fortan regelmäßig mit neuen Angeboten versorgten.
Bald spielte sich ein schönes morgendliches Ritual im Hause Emery ein: Jeden Tag brachte seine Postangestellte Genevieve ihm zum Kaffee, den er in seinem Designstudio einnahm, die Briefe, die aus aller Welt für ihn eintrafen. Schals aus allen Himmelsrichtungen, in mitunter exaltierten Verpackungen. Ein Schal aus den USA kam in einer Minischachtel mit Tiefkühlpommes. Ein anderer Umschlag war übersät mit Kätzchen-Aufklebern.
Der Schal der nackten Marilyn
Manche Stücke weisen eine abenteuerliche Provenienz auf. Der Schal mit der nackten Marilyn Monroe hing in einer Bar und wurde in den Sechzigern vom berühmten Fotografen Bert Stern herausgegeben. Ein überaus seltenes Stück. Das angemessen abgeranzt wirkt. "Der Zigarettenrauch in der Bar hat die Farbpigmente des Stoffes fast vollständig aufgefressen", erzählt Emery.
Die Frage nach seinem Lieblingsschal ist für den Designer, als würde man eine Mutter zwingen, sich für ein Lieblingskind zu entscheiden. Zweifellos aber gehört jener Dior-Schal zu seinen Favoriten, der das Gesicht einer Frau durch ein grafisches Spiel konzentrischer Kreisen darstellt. Einer der ersten Schals, die Emery für seine Sammlung erworben hat. "Und immer noch übt er eine große Faszination auf mich aus."
Auch andere Stücke bedeuten ihm besonders viel. Dazu zählt ein Tuch von Modedesigner Jean Dessès, in pastelligen, weichen Farben ein Gegenpol zu den oft strukturierten Schals in Primärfarben. "Und die Schals von Yves Saint Laurent haben mich stets mit ihrer Schlichtheit und dem einzigartigen Farbenspiel beeindruckt", so Emery. Auch ein Österreicher zählt übrigens zu seinen Lieblingen. "Die Schals von Rudi Gernreich sind durch ihre Kühnheit und Radikalität bemerkenswert."
Wie lagert man 10.000 Schals?
Stellt sich bei zehntausend Sammelstücken noch eine praktikable Frage: Wie verstaut man eine solch riesige Kollektion?
Benoit Pierre Emery wäre nicht der Sammler, der er ist, hätte er das nicht sorgfältig organisiert. Jeder Schal weist eine Quellenangabe auf und steckt in einer Tasche. Jede Tasche ist Teil eines Kartons, der zehn Schals enthält. Dieser wird mit zehn anderen in einer großen, nummerierten Lackschachtel zusammengefasst. Alles lagert in einem speziellen Raum mit stabiler Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Werden seine Schals auch je getragen? "Niemals!", lacht Emery. "Ich hätte Angst, sie zu verlieren."
Die Arbeit am Buch hat ihm jedenfalls wieder Lust gemacht, selbst Schals zu entwerfen. Erste Prototypen sind am Markt. Seine eigene Marke Anfang der 2000er, die mit grafischen Mustern auffiel, die aus kleinen weißen Pixeln bestanden, legte Emery auf Eis, als er begann für Hermès und Kenzo zu designen. Doch hauptsächlich beschäftigt er sich seit 2018 für Hermès mit Geschirr.
"Schals sind wie Gemälde", so Emery, eine Tischkollektion müsse hingegen in Einzelteilen als auch in Kombination harmonieren: "Wie bei einem Puzzle." Großes Vergnügen bereitet Emery beides. Wenngleich auf unterschiedliche Weise. "Ein Tafelservice zu designen ist Teamarbeit, an der Formgestalter, Künstler und Handwerker teilnehmen", erklärt der Design-Star. "Die Gestaltung eines Schals ist dagegen ein einsames Abenteuer."
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