App "Journal": Warum es hilft, deine Gedanken niederzuschreiben

Tag für Tag sein Leben mithilfe von "Journaling" reflektieren: Eine Schreibtherapeutin verrät, was es dir wirklich bringt.

"Schreibe über etwas, das dir unerwartet große Freude bereitet hat“, „Was ist das Netteste, das du über dich selbst sagen könntest?"

Wertvolle Denkanstöße. Sie kommen allerdings nicht vom Psychologen oder Coach des Vertrauens, sondern vom Handy. "Journal“ heißt die neueste App, die mit dem Update iOS 17.2 auf aktuellen iPhones installiert wurde. 

Ein Tool zum Tagebuchschreiben oder, wie "Apple" es beschreibt: "Eine App, um alltägliche Momente und besondere Ereignisse im Leben zu reflektieren und Dankbarkeit auszudrücken, was sich nachweislich auf das Wohlbefinden auswirkt." Sie will dazu animieren, anhand von Fotos, Videos oder besuchten Orten Erlebtes zu erinnern und zu reflektieren. Doch wie sehr kann so ein Tool das Leben eines Menschen bereichern?

Innere Prozesse

Zunächst eine Begriffsdefinition: Im englischsprachigen Raum wird "diary" von "journal" unterschieden. Unter Tagebuchschreiben versteht man das Festhalten von Erinnerungen. Momente werden beschrieben, man hält fest, was passiert. Während sich ein Journal eher mit inneren Prozessen beschäftigt, um sich selbst besser kennenzulernen oder Gefühle und Erlebtes zu reflektieren. "Im deutschsprachigen Raum ist dieser Unterschied nicht so deutlich", sagt die Schreibtherapeutin Ursula Neubauer (hypnowriting.at). 

Populär wurde "Journaling" vor allem durch die "Morgenseiten" aus dem Buch "Der Weg des Künstlers" von Julia Cameron. Sie empfahl, sich morgens freizuschreiben, um Belastendes loszuwerden. Dankbarkeitstagebücher oder 5-Minuten-Journale verfolgen eine ähnliche Intention.

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Dass Schreiben wirkt, hat der US-Psychologe James Pennebaker bereits in den 1980er-Jahren bewiesen. Damals bat er Studienteilnehmer vier bis fünf Mal für 20 Minuten ihre tiefsten Gedanken und Gefühle zum schlimmsten, emotional berührendsten Erlebnis aufzuschreiben. Vom Effekt war selbst Pennebaker überrascht: Jene, die sich alle Last von der Seele schrieben, mussten danach weniger oft zum Arzt und waren positiver gestimmt als die Vergleichsgruppe. "Expressives Schreiben" gilt mittlerweile als wissenschaftlich fundierte Selbsthilfemethode.

Auch wenn es beim Journaling eher um Reflexion als um emotionale Bewältigung großer Themen geht, ist es nicht weniger wirksam. Schriftlich zu benennen, was jemand aktuell gerade fühlt und denkt, hilft, Dinge zu erkennen und sich gut in der Gegenwart zu verankern.

Entlastende Wirkung

"Diese Art des Schreibens unterstützt die Selbstwirksamkeit und hilft, ein Gefühl für sich zu bekommen, um sich besser kennenzulernen, Situationen anders und neu einzuordnen oder mehr Klarheit zu gewinnen", sagt Neubauer. Menschen, die zum Grübeln neigen, profitieren besonders: "Es kann eine entlastende Wirkung haben, wenn man aus sich etwas herausholt und ans Papier abgibt." Neubauer ist ein Fan des intuitiv-expressiven Schreibens, "Free Writing" genannt. 

"Beeindruckende Effekte entstehen vor allem, wenn man sich intuitiv darauf einlässt", sagt sie. Im "Durchschreibemodus" schreibt die Hand quasi von allein, nichts wird bewertet. "Da ist kein innerer Kritiker. Es ist wichtig, alles zu vergessen, was man in der Schule jemals über das Schreiben gelernt hat", so Neubauer. Viele ihrer Klienten bekommen dann auf Dinge Zugriff, die sonst, mithilfe des Verstands, niemals auftauchen würden. 

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"Das sind sehr spezielle Aha-Erlebnisse, an die man niemals gedacht hätte", sagt sie. Die neue "Journal App" findet die Expertin grundsätzlich super, weil sie Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt. "Gleichzeitig würde ich es noch nicht als Journaling bezeichnen, wenn zu einem Bild oder Foto ein kurzer Text geschrieben wird." Außerdem ist erwiesen, dass die Effekte größer sind, wenn Gedanken mit der Hand geschrieben und nicht getippt werden. "Händisches Schreiben aktiviert mehrere Areale im Gehirn und löst komplexe Denkprozesse aus, die beim Tippen wegfallen", sagt sie.

Für Einsteiger sei die App dennoch fein – "ideal, um eine gute Routine zu starten oder sich auf die schönen Momente des Lebens zu fokussieren."

Tipps fürs Journaling

Bewusstseinsstrom
Zehn Minuten lang auf zwei leeren Seiten schreiben, was in diesem Moment gerade an Gedanken und Gefühlen da ist. Nur niederschreiben, was man denkt, spürt, fühlt, riecht – ohne auf die Rechtschreibung oder Grammatik zu achten. Einfach nur schreiben, bis die Zeit vorüber ist. "Ein sicherer Raum, um sich auszuprobieren", sagt Ursula Neubauer.

Bullet Journaling
Der pragmatischere Zugang, erfunden von Ryder Carroll. Die Kombination aus Tagebuch, Kalender, To-do-Liste, Skizzenheft hilft, achtsamer und konzentrierter zu werden und sich besser zur organisieren. Ziele und To-dos werden formuliert.   

Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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