Frau isst Spinat.

Spinat als Heißhunger-Killer: Wie effektiv ist das Tiktok-Frühstück wirklich?

Auf Social Media wird roher Spinat als Wunderwaffe gegen Heißhungerattacken gepriesen. Kann das Blattgemüse tatsächlich die Lust auf Ungesundes drosseln? Der KURIER hat bei einer Diätologin nachgefragt.

Durch die Smartphone-Lautsprecher dringt ein Krachen. Die zum Geräusch gehörenden Bewegtbilder am Display zeigen eine junge Frau, die sich eine ganze Handvoll rohe Spinatblätter auf einmal in den Mund schiebt. Es folgt beherztes Kauen, und ein Schluck Wasser zum Hinunterspülen der Reste des zermalmten Blattgemüses.

Das eigenwillige Morgenritual erfreut sich auf der digitalen Plattform Tiktok derzeit großer Beliebtheit. Der rohe Spinat soll ungesunde Gelüste dämpfen, so die im Netz dargebotene Erklärung. Demnach kalibriert das Krautgewächs die Geschmacksknospen zu Tagesbeginn neu – durch das leicht süßliche, milde und erdig-bittere Aroma des Spinats erscheinen Schokolade, Chips und Co. weniger attraktiv. 

Doch ist an dieser Theorie etwas dran?

 Programmieren die Bitterstoffe im Spinat die Geschmacksknospen neu?

"Es stimmt schon, dass sich die Geschmackswahrnehmung durch die Nahrungsmittel, die man häufig konsumiert, verändert", erklärt Diätologin Doris Gartner. Kinder, die viel naschen, gewöhnen sich etwa an die Süße von raffiniertem Zucker und nehmen in der Folge zum Beispiel reife Erdbeeren kaum mehr als süß wahr. "Es dauert aber einige Zeit, bis sich die Geschmacksknospen an den Süßgeschmack gewöhnen, und es braucht auch Zeit, bis sie sich wieder entwöhnen. Das gilt auch für salzigen Geschmack oder Schärfe", sagt Gartner. Die Bitterstoffe im Spinat würden zwar süßen oder salzigen Geschmacksprägungen entgegenwirken. Langfristige Ernährungsgewohnheiten "können damit aber nicht weggewischt werden". 

Ohnehin entstehe der Gusto auf Süßes nicht unbedingt deswegen, weil unsere Geschmacksknospen danach verlangen, sagt Gartner. Viel wesentlicher sei die Koppelung des Süßgeschmacks an Emotionen. "Wenn wir Stress erleben und unser Belohnungssystem im Gehirn darauf gepolt ist, dass Zucker Glücksgefühle erzeugt, entsteht das süße Verlangen." Auch ein instabiler Blutzuckerspiegel begünstige Heißhunger auf Ungesundes. "Wenn der Blutzuckerspiegel nach unten rasselt, kann es zu einem Craving kommen." Zudem brauche der Körper in Stressphasen mehr Insulin, um den Blutzucker stabil zu halten. Unter Belastung ist der Mensch grundsätzlich empfänglicher für süße Nahrungsreize.

In Summe sei die Theorie vom heißhungerdrosselnden Spinat "zu einfach gedacht, weil im Hintergrund viele anderen Systeme sind, die man durch eine Handvoll Spinat leider nicht aushebeln kann".

Vitamin- und mineralstoffreiche Smoothie-Zutat

Die auf sozialen Medien propagierte Wunderwirkung des Spinats mag Wunschdenken sein. Aus gesundheitlicher Sicht ist das Gemüse dennoch empfehlenswert, weiß Gartner: "Spinat ist vitamin- und mineralstoffreich. Als Zutat im morgendlichen Smoothie trägt er durchaus zu einer guten Nährstoffversorgung bei."

Zum echten Sattmacher wird Spinat erst in Kombination mit anderen Nahrungsmitteln. "Unser Körper ist gut gesättigt, wenn alle Makronährstoffe, sprich Kohlenhydrate – idealerweise langkettige –, Eiweiß und Fett, in einer Mahlzeit vorhanden sind." Im Smoothie-Mixer sollten neben dem Blattgemüse auch Joghurt oder Topfen, ein Teelöffel Nussmus und Haferflocken landen. 

Auch in gekochter Form sei Spinat gesund. "Allerdings ist der Vitamingehalt in den rohen Blättern höher." Zudem wandle sich beim Wiederaufwärmen das enthaltene Nitrat in Nitrit, "das nicht ganz so gesund ist".

Körper profitiert von vielseitiger Ernährung

Studien zeigen auch, dass die Reihenfolge, in der Makronährstoffe bei Mahlzeiten konsumiert werden, den Blutzuckerspiegel beeinflusst. Isst man Eiweiß vor Kohlenhydraten, bleiben Blutzuckerspitzen eher aus. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von elf Studien ergab beispielsweise, dass Menschen, die erst am Ende einer Mahlzeit Kohlenhydrate zu sich nahmen, einen niedrigeren Blutzuckerspiegel aufwiesen.

Gartner plädiert für eine differenzierte Sichtweise: "Wenn man Kohlenhydrate zu sich nimmt, die langsam verdaut werden, zum Beispiel Vollkornnudeln, ist die Reihenfolge, in der Eiweiß und Fett aufgenommen werden, nicht ganz so wesentlich." Isst man allerdings eine Kugel Eis auf nüchternen Magen, steigt der Blutzuckerspiegel rasch an – man bekommt schnell wieder Hunger. "Isst man das Eis nach einem vollwertigen Mittagessen, ist der Effekt nicht so gravierend."

Nicht alle Menschen können sich mit den Bitternoten im Spinat anfreunden. Ein sättigendes Frühstück muss nicht zwingend grün sein, betont Gartner: "Ein Porridge mit Karotten oder Zucchini eignet sich auch wunderbar." 

Wer die gesunden Bitterstoffe nicht missen möchte, kann statt Spinat zu Rucola oder Chicorée greifen. "Der Körper profitiert ohnehin am meisten, wenn man eine breite Palette an Lebensmitteln in die Ernährung integriert."

Marlene Patsalidis

Über Marlene Patsalidis

Gebürtige Linzerin, 2007 fürs Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nach Wien gekommen – und geblieben. Nach Stationen bei der Tageszeitung Heute und dem Frauenmagazin miss seit 2016 beim KURIER tätig. Schwerpunktmäßig mit Gesundheits- und Wissenschaftsthemen befasst. Ausgeprägtes Interesse für den Menschen und was die Wissenschaft über ihn zutage fördert.

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