Gänsehaut bei Schwanensee: Einblicke der Primaballerina
Schwanensee fasziniert, besonders zur Weihnachtszeit. Ioanna Avraam, die an der Wiener Staatsoper den schwarzen und weißen Schwan tanzt, über die Magie des Ballett-Stücks.
Die kleinen Schwäne, die Händchen haltend über die Bühne schweben. Der weiße Schwan, der Prinz Siegfried den Kopf verdreht. Und dann dieses Bangen, wenn der düstere schwarze Schwan oder der finstere Zauberer Rotbart auftauchen und die Harmonie zerstören.
Es gibt Dinge, die gehören zur Weihnachtszeit wie Zimtgeruch und flackernde Lichterketten: "Schwanensee" zum Beispiel. Neben "Der Nussknacker" ist Tschaikowskis Klassiker das Weihnachtsballett schlechthin – und das aus gutem Grund. Große Gefühle, ein Hauch von Magie und unvergessliche Melodien machen das Stück zum perfekten Begleiter für die festliche Jahreszeit. Kein Wunder, dass die Vorstellungen – ob in Theatern oder Veranstaltungshallen – rund um den Globus stets ausverkauft sind.
"Der besondere Zauber von Schwanensee liegt in seiner zeitlosen Schönheit und der tiefen Emotionalität", erklärt Ioanna Avraam, die im Herbst ihr Debüt als Odette/Odile an der Wiener Staatsoper gab.
Große Herausforderung für Tänzerinnen und Tänzer
"Die Geschichte über Liebe, Verrat und Erlösung berührt nicht nur das Publikum, sondern stellt auch für uns Tänzerinnen und Tänzer eine enorme künstlerische und technische Herausforderung dar."
Dazu unterstreiche Tschaikowskis eindringliche Musik jeden Moment des Balletts. Außerdem sei das Stück ein Fest für die Augen: "Die Schwäne, anmutig und gleichzeitig verletzlich, das perfekt synchronisierte Corps de Ballet und die fesselnde Eleganz der Choreografie schaffen eine magische Stimmung", sagt die Erste Solotänzerin. "Die Symmetrie und Harmonie der Szenen sind einfach atemberaubend."
Odette und Odile sind sanft und feurig
Für viele Tänzerinnen ist es der große Traum: einmal Odette und Odile zugleich zu sein. Diese Doppelrolle weckt laut Avraam Ehrgeiz, Respekt und Ehrfurcht. In der klassischen Ballettwelt wird sie wegen ihrer Herausforderung und Tiefe als Meilenstein in einer Karriere gesehen.
"Der Wechsel zwischen der Sanftheit und Verletzlichkeit von Odette und dem feurigen Selbstvertrauen von Odile und dann wieder zurück, ist wie die Reise zwischen zwei Welten, eine von Anmut und Zerbrechlichkeit, die andere von Schärfe und Betrug. Es ist eine Herausforderung, aber auch eine aufregende Reise, die sowohl technische Präzision als auch emotionale Tiefe erfordert", sagt Avraam, die in ihrer beruflichen Laufbahn fast alle Rollen des Schwanensee getanzt hat – vom Mitglied des Corps de Ballet bis zur Verkörperung der beiden Titelrollen.
An der Staatsoper ist Schwanensee in diesem Advent nicht zu sehen, dafür The Winter’s Tale und Dornröschen. Doch das Haus feierte im Herbst ein 60-jähriges Jubiläum: Wien, 15. Oktober 1964: Es war einer jener Abende, an denen Geschichte geschrieben wurde. Das Haus wagte sich an den kompletten Schwanensee. Nicht nur an den zweiten Akt, der zuvor in Wien zu sehen war. Ein 26-jähriger Wirbelwind namens Rudolf Nurejew, der nicht nur die Choreografie lieferte, sondern gleich auch noch selbst als Prinz Siegfried über die Bühne fegte.
Der junge Tänzer hatte während eines Aufenthalts in Paris den einen riskanten Sprung gewagt. Er kehrte nicht mehr nach Russland zurück. In seiner Inszenierung holte Nurejew, geprägt von den Überlieferungen seiner Lehrer aus St. Petersburg, die Magie des Originals zurück. Und doch brachte er frischen Wind in die altehrwürdigen Schwanenflügel. Anders als seine Vorgänger rückte er Prinz Siegfried ins Zentrum – nicht als bloßen Märchenprinzen, sondern machte ihn zu einer Figur voller psychologischer Tiefe.
Nurejew stellte Prinz Siegfried in den Mittelpunkt
"Im Gegensatz zu anderen Versionen hat Nurejew den Schwerpunkt auf den inneren Kampf des Prinzen gelegt und ihn als eine eher in sich hineinblickende und konfliktreiche Figur dargestellt. Dies verleiht dem Ballett eine dunklere, nuanciertere Dimension. Das macht Schwanensee nicht nur zu einer Liebesgeschichte, sondern auch zu einer tiefgehenden Erkundung menschlicher Gefühle und des Schicksals", sagt Avraam.
Die "Wiener Version" sei wegen ihrer extremen technischen Präzision, der komplizierten Partnerarbeit und der schnellen Richtungswechsel eine besondere Herausforderung. "In dieser Verschmelzung von Athletik und Kunstfertigkeit zeigt sich Nurejews Genialität."
Radikaler Schluss
Dazu entschied sich Nurejew im Gegensatz zu vielen sowjetischen Versionen, in denen der Prinz und Odette durch Liebe und Magie gerettet werden, für einen radikaleren Schluss: Der betrogene Siegfried, der erkennt, dass er durch Rotbarts Betrug Odettes Schicksal besiegelt hat, stürzt sich verzweifelt in die Fluten. Die Bühne verwandelt sich in ein reißendes Gewässer, während Tschaikowskis Musik ihren emotionalen Höhepunkt erreicht.
Weltrekord-Applaus
Bei der Uraufführung hatte Nurejew die Britin Margot Fonteyn als Odette/Odile an seiner Seite. 89 Mal holte sie das begeisterte Publikum mit seinen Beifallsstürmen vor den Vorhang: Nicht nur eine Wahnsinnsleistung der Tänzerin davor, sondern auch in den Rängen. Damit war nicht nur klar, dass die Aufführung ein voller Erfolg war – sie tanzte sich auch direkt ins Guinness-Buch der Rekorde. Das hat im Ballett noch niemand geschafft.
Bis heute zählt Nurejews "Wiener Fassung" mit über 260 Aufführungen zu den beliebtesten Signaturstücken des Wiener Staatsballetts. Und sie ist nahezu immer ausverkauft.
Tschaikowskis Schwanensee fiel bei der Premiere durch
Das blieb Schwanensee nach seiner Uraufführung am 20. Februar 1877 im Moskauer Bolschoi-Theater zunächst noch verwehrt. Einfallslose Choreografie, lärmende, gar zu wagnerianische Musik, hieß es zunächst. Erst mit einer überarbeiteten Version von 1895 in St. Petersburg sollte sich das ändern. Schwanensee wurde zum Klassiker – mit allem, was dazugehört: anmutige Tänzerinnen und Tänzer, perfekte Harmonie, Kostüme in Weiß und Schwarz, geheimnisvoller Wald, mondbeschienener See.
"Meiner Meinung nach gehört Schwanensee in einen klassischen Rahmen, denn seine Schönheit und Kraft liegen in seiner Zeitlosigkeit. Das bestehende Meisterwerk mit seiner komplizierten Choreografie und Tschaikowskis ikonischer Partitur hat über ein Jahrhundert überdauert und das Publikum mit seiner Eleganz und emotionalen Tiefe in seinen Bann gezogen." Doch es gebe immer wieder innovative Neuinterpretationen – etwa von Matthew Bourne. Der ließ die weiblichen Schwäne durch kraftvolle männliche Tänzer ersetzen.
"Er stellte die Konventionen infrage und fügte der Geschichte neue emotionale Ebenen hinzu." Und er zeigte laut Avraam, dass Tradition mit der Modernisierung koexistieren kann. Aber: "Wenn eine Neuinszenierung dieses Erbe nicht erreichen oder verbessern kann, sollte das Original unangetastet bleiben, um seine Integrität zu bewahren."
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