Debütieren am Opernball: Mit gebrochener Rippe im Dreivierteltakt
Opernball 2023. Schlafmangel, Wiegeschritt und Omas Traum: Wir begleiten ein Debütantenpaar durch die intensiven Proben.
Still, ganz still, wie ausgestorben, ist es an einem Samstag, neun Uhr früh, in der Wiener Staatsoper. Eine Geisterstadt, möchte man sagen, nein, ein Geisterpalast, man hört nur die Stimmen vergangener Feste singen. Die Feststiege, auf der sich sonst die Menschen gegenseitig auf die Zehen steigen, ist menschenleer. Man könnte auf ihren Stufen ein Rad schlagen.
Die Büsten wirken noch verschwiegener, als sie es sonst tun. Als wären sie eben erst verstummt und warteten darauf, dass jemand sie auffordert, wieder zu sprechen. Die Gänge, leer, die Pausenbuffets, leer, die Logen, verschlossen.
Nur in einem Raum ist was los. Es tönt, trippelt und tanzt. Kurz vor zehn wurde dem Gustav-Mahler-Saal von mehr als hundert Damen und Herren Anfang 20 ein Pulsschlag eingehaucht. Es ist ein freundlicher Ort, durch die hohen Fenster dringt warmes, gleißendes Licht vom Ring und der Kärntner Straße. Doch erst jetzt, mit den an Kordel wie Sicherheitsmann vorbei in den Saal strömenden Debütanten – etwas altvaterisch genannt: das Jungdamen- und Jungherrenkomitee – füllt er sich mit Leben.
Sie kichern, sie tratschen, sie essen noch schnell was, sie bringen Trinkflaschen und Rucksäcke mit, Magnesiumtabletten und Erwartungen. Manch einer bindet noch schnell die Krawatte. Andere tragen bereits weiße Baumwollhandschuhe. Alle stellen sich nun in Reih und Glied auf, um die diesjährige Choreografie einzustudieren. In Rock, Bluse, Anzug, Hemd, Krawatte. Durchgesprochen hat sich der Dresscode nicht bei allen. Jedenfalls nicht bei den Burschen. „Ab morgen: sauberes Outfit!“, tönt es mit spielerischer Strenge von oben. Oder doch, ja, das ist ernst gemeint.
Oben, das ist ein Podest, auf das vier Stufen aus rotem Samt führen und auf dem eine blonde Frau mit weißer Rüschenbluse und breitem Gürtel hinab ins Parkett zackige Ansagen macht. Maria Santner, Tanzschulbesitzerin, Staatsmeisterin, „Dancing Stars“-Jurorin. „Opernball, da geht nix drüber“, sagt sie. Zum dritten Mal sind sie und ihr Bruder Christoph für die Choreografie zuständig. Zeremonienmeister hieß das früher, der verbot Tattoos und lange Haare, so sittlich streng wurde das einst noch ausgelegt.
Los geht’s. Die Debütanten nehmen sich an den Händen. Wohl und Wehe der gelungenen Opernball-Eröffnung lasten auf ihren Schultern, vor dem Fernsehapparat werden Hunderttausende auf jede kleinste Bewegung aufpassen wie die Haftelmacher. Aufgeregt wirkt aber keiner. „Eins, zwo, drei, vier, fünf, sechs – siiieben, uuund: stopp!“ Musik spielt keine, im selben Takt drehen sich dennoch alle. Schrittchen nach links, Schrittchen nach rechts, Seitenwechsel. „Wiiiege, Wiiiege, Wechselschritt – Wiiiege, Wiiiege, Wechselschritt“, tönt es übers Mikro. Alle sind sehr konzentriert bei der Sache.
Der Traum der Oma
Katharina-Christina Zimmermann und Stefan Meidl etwa. Sie – ist Programmiererin und leidenschaftliche Ballgeherin. Zuckerbäckerball, Blumenball, Philharmonikerball hat sie heuer eröffnet. Mit dem Opernball dazu holt sie sozusagen den Grand Slam der Ball-Eröffnungen. Vor allem aber tanzt sie für die Oma. Den ewigen, unerfüllten Traum, den sie hatte, erfüllt ihr jetzt sie, das Enkerl.
Er – ist Cocktail-Barkeeper im ersten Bezirk. Zu den Proben erscheint er nach langen Nächten oft nur mit drei Stunden Schlaf. Was es auch nicht leichter macht: Vor drei Wochen ist er bei der Arbeit ausgerutscht, nassen Fliese und so, hat sich eine Rippe angebrochen. „Da muss man durch“, sagt er.
Paar, sind die beiden keines. Aber am Parkett perfekt füreinander.
Die Sehnsucht nach diesem magischen Gefühl, eine Nacht lang federleicht übers Parkett zu schweben, das haben jetzt ganz viele Menschen. Zwei Jahre Pandemie-Pause, nun möchte man wieder beschwingt sein. Wieder zurück ins jährlich dargebotene Märchen, das man zuvor zu wenig zu schätzen wusste. Es gibt einen Hunger nach Dreivierteltakt, Walzerseligkeit, Tanzvergnügen. Der Andrang ist rekordverdächtig, sagt Staatsopern-Direktor Bogdan Roščić. „Solange Wien tanzt, kann die Welt nicht untergehn“ hat Stefan Zweig einst geschrieben („Schachnovelle“). Also auf, aufs Parkett!
„Mit Musik, von Anfang an!“, ruft Santner, eine enorm energiegeladene Frau, breites Lächeln, tolle Haltung, in den Saal. Debütanten kommen aus allen Bundesländern. Promi-Kinder sind natürlich auch dabei, etwa die Tochter von Oscar-Regisseur Stefan Ruzowitzky. Selbst aus Portugal, Italien, Polen melden Paare sich an. 150 zwischen 18 und 25 werden es insgesamt sein. Das schweißt zusammen. „Bei mir melden sich heute noch Debütanten von den Jahren zuvor“, erzählt Christoph Santner.
Ein Guide, der den Youngstern ausgehändigt wird, schreibt detailliert fest, wie man sich zu stylen hat. Für den Frisuren-Look ist heuer der Steinmetz-Bundy Privatsalon zuständig. Hochgesteckt, klar, und stabil genug, damit die Tiara darauf hält. 435 Swarovski-Kristalle glitzern und wiegen schwer. Auf der Tiara umkreisen Sternschnuppen einen großen Stern, der in der Mitte prangt, was die Debütantinnen wirken lässt wie Superheldinnen. Avengers of Opernball.
„Alle Blumen in der Mitte ausrichten!“ – „Sauber ausrichten beim Übergang zum Zebrastreifen!“ Aufgeschrieben ergeben manche Anweisungen Rätsel auf, im Ballsaal ergeben sie sofort Sinn. Eine Blume ist eine runde Formation aus zwei Reihen, mit Zebrastreifen ist gemeint, was im Fernsehen immer so toll aussieht, wenn die Kamera von oben zeigt, wie die Linien der Herren in Schwarz und der Damen in Weiß sich kunstvoll choreografiert ineinander verschieben.
Der berüchtigte Linkswalzer ist hier das geringste Problem. Man müsse bloß aufpassen, dass einem nicht schwindlig wird, wiegelt Debütantin Katharina ab. Sechs sehr intensive Proben hat sie zusammen mit ihrem Tanzpartner zu absolvieren. Dann soll jeder Schritt sitzen. Noch ist sie herrlich unbeeindruckt vom bevorstehenden großen Moment der Ballnacht in der Staatsoper, doch das wird sich ändern. „Ich werde auf Anhieb nervös“, weiß sie und grinst. Tanzpartner Stefan nickt. Ein Frack in der Brandung.
Nervös werden auch andere Paare sein. Dazu zählt beim 65. Wiener Opernball etwa die Debütantin Bernadette. Mit zwölf Jahren wurde sie von einem Wagen umgefahren, es folgten Koma und Rollstuhl, sie konnte nicht sprechen, atmen, schlucken. Heute blieb die rechte Körperhälfte spastisch, doch sie hat sich in die Bewegung zurückgekämpft. Mit dem Opernball wird ein Traum für sie wahr.
Eine andere erbauliche Geschichte ist jene von Antonia Bögner und Christoph Juresa. Die Debütanten sind vom Kulturverein „Ich bin O.K.“, der eine schöne Zielsetzung hat: soziale Barrieren für Menschen mit Behinderung abzubauen, und das durch Tanz und Theater. Antonia und Christoph leben mit dem Down-Syndrom. Auch sie machen bei der Probe beste Figur. Und haben eine Riesenfreud’ dabei.
Zwischen Historie und Hysterie
„Der Ballabend hat etwas Märchenhaftes“, sagt Maria Santner. „Sobald man in Kleid und Frack schlüpft, wird man zu Prinz und Prinzessin.“ Diese gnadenhafte anmutende Verwandlung hat der Opernball doppelt so gut drauf wie jeder andere Ball auf der Welt. Andererseits, und das weiß jeder, der das Staatsgewalze je besucht hat, geht es am Opernball zu späterer Stunde auch nicht anders zu als beim Feuerwehrheurigen in Klein-Hintertupfing. Es wird über den Durst getrunken, es herrscht Geschiebe und Gedränge, und alle wollen ein Foto mit der Ballkönigin (dieses Jahr: Baumeister Lugners Jane Fonda). Opernball, das ist ein Abend zwischen Etikette und Entgleisung, Historie und Hysterie, Loge und Luder. Einziger Unterschied: Dass beim Staatsakt das kleine Bier wohlfeile 13 Euro 50 kostet.
Und natürlich, dass echte Singstars zu sehen sein werden. Tenor Andreas Schlager singt mit Gattin Lidia Baich „Freunde, das Leben ist lebenswert“, die Post-Pandemie-Hymne quasi, anschließend Camilla Nylund, danach Nylund und Schlager im Duett. Der Einzug der Jungdamen- und Jungherren erfolgt zur Polonaise ... aber Moment, jetzt ist in der Opern-Tanzstunde gerade anderes Thema. Die Etikette, wieder mal.
„Da kommt einer in Grün daher!“, entfährt es Christoph Santner. „Wie heißt du – Niklas? Wir werd’n noch Freunde werden.“ Alle lachen, inklusive Niklas. „Spaß, ich hab euch alle lieb.“ Immer wieder zeigen die Santners in der Mitte des Saals die Schritte vor.
„Schultern tief, langer Hals, heute ist ein schöner Tag!“ ertönt ihr Kommando, und: „Kolonne A, bleibt stehen!“ Sie sind bekannt für ihre klare Linie im Unterricht, aber sind auch freundlich, mit Schmäh, das sagen alle. „Wenn ihr wollt’s, könnt’s ihr richtig guad sein“, loben die Santners jetzt. Wenn die Frauen bei einem Teil der Choreo miteinander das Tanzbein schwingen (Nachtrag: zur Polonaise in A-Duur op. 40/1, von Chopin), nennen sie das „Damenflirt“, so weiß jeder, was gemeint ist. „Nicht vergessen: ko-ke-ttieren! Und: Hände nach oben, sonst holen wir uns eine blutige Nase, und das macht sich nicht so gut auf der weißen Bluse.“
Dass in der Debütantenriege auch zwei junge Frauen miteinander schwofen, hat übrigens nichts damit zu tun, dass sie ein Liebespaar wären. Sondern weil die Herren der Schöpfung tanzfaul alle abgewunken hatten. Selbst ist die Frau.
Doch auch für unsere Debütantin Katharina naht ein unvergesslicher Abend: Sie feiert in der Opernballnacht einen halbrunden Geburtstag: „Super-Location für den 25er“, grinst sie. „Jackpot, würde ich sagen.“
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