
Lars Eidinger: "Perfektion ist Todessehnsucht"
Schauspiel-Star Lars Eidinger über Entfremdung, Weltschmerz – und warum wir im Zeitalter des Narzissmus leben.
Eben war er noch in Wien, gedreht hat er da "Die Blutgräfin" mit Frankreichs Superstar Isabelle Huppert. Lars Eidinger steht längst mit der ersten Schauspielgarde Europas und Hollywoods vor der Kamera.
Auf der Bühne gilt er, sich emotional verausgabend, mit seinen intensiven Darbietungen ohnehin als selbstvergessener Gigant – ob als Hamlet in Berlin oder als Jedermann bei den Salzburger Festspielen. Jetzt spielt er im Epos "Das Licht" (ab 20.3.), das Kino-Comeback von Regisseur Tom Tykwer ("Lola rennt") nach acht Jahren Arbeit am TV-Hit "Babylon Berlin".
In beinahe drei Stunden verhandelt das faszinierende Mammutwerk große gesellschaftliche Themen wie Flüchtlingskrise, Familie, Klima, mit Queens "Bohemian Rhapsody" als Leitmotiv und Einsprengseln von Musical und Animation.
Es ist das Porträt einer scheiternden Familie, die nur noch streitet: der Vater, ein hipper Werber und Weltverbesserer, der Konzerne gut dastehen lässt; die gestresste Mutter, die Förderprojekte in Kenia realisiert; die aktivistische Tochter, die zugedröhnt durch die Klubs zieht; der einzelgängerische Sohn, der sich in Virtual-Reality-Universen verliert.
Dass die polnische Putzkraft in ihrer Wohnung tot umkippt, merken sie gar nicht. Die Begegnung mit ihrer neuen, aus Syrien geflüchteten Haushälterin wird schicksalhaft. Die geheimnisvolle Farrah scheint die Familie neu zu einen. Ein blinkendes Licht spielt dabei eine wichtige Rolle ...
Herr Eidinger, kennen Sie den Nachnamen Ihrer Haushaltshilfe bzw. Putzkraft?
Ich habe keine.
Regisseur Tom Tykwer hat diese Frage auf die Idee für "Das Licht" gebracht. Der Eindruck, den er davon ableitete: Einerseits sorgen wir uns zwar ums große Ganze, andererseits kommunizieren wir nicht einmal mit unseren Nächsten. Eine treffende Gegenwartsdiagnose?
Was ich schon feststelle, ist eine große Entfremdung von uns selbst und unserer Umgebung. Wir leben im Zeitalter des Narzissmus und werden ja auch regiert von Menschen, die offensichtlich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Die Frage, die sich für mich dabei stellt, ist nicht, wie es diese Leute geschafft haben, an die Macht zu kommen, sondern: Wieso haben wir sie dazu ermächtigt, sprich – gewählt?
Narzissmus feiert derzeit Hochkonjunktur, politisch als auch im alltäglichen Umfeld, wohin man schaut, erstaunlich viele Selbstdarsteller.
Es gibt allerdings ein gängiges Missverständnis, was Narzissmus bedeutet. Narzissten werden oft als Menschen beschrieben, die in sich selbst verliebt sind, nur um sich kreisen und eitel sind. Gemeint ist meines Erachtens aber genau das Gegenteil. Narzissten sind Menschen, die sich nicht selber lieben können, weil sie sich selbst nicht erkennen. Das ist für mich auch das zentrale Thema dieses Films. In einer Szene wird die Filmfamilie aufgefordert: Zeigt euch einander, ohne Vorwurf, ohne euch zu verurteilen, ohne Bewertung – erkennt euer Gegenüber und gebt euch selbst zu erkennen.
Zum Podium der Selbstdarstellung ist auch Social Media verkommen. Da werden zwar eifrig Hashtags und Storys über Weltprobleme gepostet, gleichzeitig fehlt es in der Realität an einfühlsamem Interesse füreinander.
Es wäre schön, wenn sich die Leute auf Social Media selbst darstellen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie stellen etwas dar, das sie nicht sind. Entworfen wird das Image eines vermeintlichen und verklärten Selbstbilds – mit einem selbst hat das nichts zu tun.
Das Fatale an den sozialen Netzwerken – und deswegen habe ich mich von dort auch vor mehr als zwei Jahren verabschiedet – ist das Forcieren des Schwarzweiß-Denkens. In der Psychologie bezeichnet es das Denken in Extremen, eine kognitive Verzerrung, die als Form von Wahnsinn und Borderline diagnostiziert wird.
Treiben uns die sozialen Medien in den Wahnsinn?
Es geht um die Unfähigkeit, die Welt so wahrzunehmen, wie sie sich darstellt: nämlich widersprüchlich, in Grauzonen und Zwischentönen. Die Struktur der sozialen Medien ist so aufgebaut, dass man in Schwarz oder Weiß, Richtig oder Falsch, Gut oder Böse unterscheiden muss, um sich zu positionieren. Alles wird reduziert auf Tweets, Posts und Statements.
All das führt nicht zu einem Erkenntnisgewinn, sondern nur dazu, dass wir uns entzweien. Man entfernt sich voneinander, und im schlimmsten Fall führt das zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Unser Film versucht diese Zwischenräume zu beleuchten und Licht in dieses Dunkel zu bekommen.

Schauspieler Lars Eidinger: "Wenn beide Seiten recht haben, wird es kompliziert"
©Kurier/Franz GruberDas Liberale, Weltoffene und der Zusammenhalt schien lange auf dem Vormarsch, dann stellte sich heraus, das war nur eine Blase. Was haben wir falsch gemacht?
Richtig oder falsch, ich versuche möglichst nicht in diesen Kriterien zu denken. Vergangenes Jahr bin ich auf ein Zitat von Ludwig Wittgenstein gestoßen, in einem Artikel in der FAZ über den Gaza-Konflikt. "Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten." Den Satz finde ich sehr zutreffend. Ich glaube, die Problematik liegt darin, dass wir immer noch versuchen, die Welt zu erklären, unlösbare Dilemmata zu lösen und zwischen Gut und Böse und Richtig und Falsch zu unterscheiden. Aber wenn beide Seiten recht haben, wird es kompliziert.
Recht haben oder nicht, das ist öfter eine Frage der Weltanschauung.
Man hat das im deutschen Wahlkampf gesehen: Ab einem gewissen Punkt ging es nur noch um "rechts" und "links". Diese Kategorisierung schafft nur extreme Lager. Viel wichtiger ist die Frage, was die einzelnen Forderungen oder was die Politik der Parteien ist – und nicht, ob sie rechts oder links sind. Das ist eine Vereinfachung, die nicht dazu beiträgt, diesen Konflikten wirklich zu begegnen.
Für mich ist Weltschmerz ein diffuses Gefühl, vielleicht ausgelöst vom Trauma, in die Welt geworfen worden zu sein – aus dem Idealzustand, dem Schoß der Mutter.
"Das Licht" handelt auch vom Verarbeiten von Schmerz. Der Figur Farrah aus Syrien passiert das Schlimmste: Sie verliert auf tragische Weise ihre Familie. Wie verarbeiten Sie Trauer, Wut, Leid?
Ein wichtiger Punkt ist, sein Leid mitzuteilen. Ich finde, alleine das Beschreiben und das Davon-Erzählen, das Sich-Öffnen ist ein wichtiger Schritt, Trauer zu begegnen.
Sie meinten einmal, Weltschmerz, mit diesem Begriff könnten Sie etwas anfangen. Wie war das gemeint?
Weltschmerz ist letztendlich ein Gefühl, das man vielleicht gar nicht so unbedingt verorten oder benennen kann. Am ehesten fühlt es sich an wie eine Depression. Eine Traurigkeit, die keine konkrete Ursache hat. Und die dadurch noch sehr viel schwerer zu therapieren ist, als wenn sie an ein konkretes Geschehnis gebunden ist. Für mich ist Weltschmerz ein diffuses Gefühl, vielleicht ausgelöst vom Trauma, in die Welt geworfen worden zu sein – aus dem Idealzustand, dem Schoß der Mutter, hinaus in die Welt.
Vertrieben aus dem Paradies?
Der Schoß der Mutter ist ja der Ort, an dem man sich geborgen und aufgehoben fühlt. Ich könnte mir vorstellen, dass der Moment, aus diesem Idealzustand verstoßen zu werden, einen traumatischen Effekt auslöst, an dem wir uns ein Leben lang abarbeiten. Das Dasein ist eine Bewusstmachung dieser schmerzhaften Erfahrung.

Am Ende, doch es gibt Hoffnung: Eidinger in "Das Licht" (mit Tala Al-Deen)
©Frederic Batier/X Verleih AGGlauben Sie an Erlösung? Ist das eine Kategorie, in der Sie denken?
Viel wichtiger ist mir beim religiösen Gedanken an Erlösung der Aspekt des Verrats an unseren Idealen. Es gibt ja einen Grund dafür, warum man sich den gekreuzigten Jesus Christus an die Wand hängt und nicht etwa den gekreuzigten Satan. Woran soll uns das mahnen? Daran, dass man den idealen Menschen gekreuzigt hat. Das ist ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte der Menschheit. Das scheint etwas zu sein, das wir nicht überwinden können und in letzter Konsequenz den Menschen vielleicht sogar zum Menschen macht.
Und Erlösung im Sinne von – Trost und Rettung? In Ihrem Film steht dafür stellvertretend "Das Licht", eine Art tröstende Wunder-Apparatur.
Ich glaube, Erlösung würde heißen, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Gleichzeitig würde das tatsächlich das Ende bedeuten. Ich sehe beim Begriff Erlösung eher ein Bild vor mir, das den Tod meint. Erlösung ist ähnlich wie das Streben nach Perfektion, das wir alle als eine Sehnsucht in uns tragen. Perfektion ist eine Todessehnsucht. Weil nur der Tod perfekt ist – und das Leben immer durch und durch fehlerbehaftet.
Und ich will jetzt nicht zu bibelfest klingen, immerhin bin ich aus der Kirche ausgetreten, aber: In dem Moment, in dem Gott einen Sohn als Sterblichen auf die Erde schickt und die Menschen ihn kreuzigen, steht das stellvertretend für unsere Unzulänglichkeit. Der Mensch ist scheinbar dazu verdammt, Fehler zu machen. Lenny von den "Simpsons" hat mal gesagt: "Menschen machen Fehler, sonst wäre am Bleistift kein Radiergummi." Das hat mir immer eingeleuchtet.
Ob auf der Bühne oder im Film, Schauspiel ist für Sie immer Drahtseilakt und emotionaler Grenzgang. Können Sie nicht anders, als mit Volldampf? Und ist Schauspiel Ihre persönliche Psychoanalyse?
Ich versuche, mein Leben generell als eine Analyse zu begreifen, und nicht nur meinen Beruf. Ich glaube, dass es grundsätzlich um die Frage geht: Wer bin ich? Das ist die Frage, die über allem steht. Bei "Hamlet" lautet der erste Satz: "Who’s there?" Und dann betritt der Mensch die Bühne und stellt sich die existenzielle Frage: Sein oder nicht sein? Das ist im Grunde die Überschrift von Kunst. Und es ist die Überschrift vom Dasein und vom Leben. Eine Ahnung davon zu bekommen, wer man ist. Es ist auch das hehre Ziel von Kunst: Erkenntnis. Was übrigens auch in der Bibel vorkommt: "Sie erkannten einander und wurden ein Fleisch" – Erkennen ist hier das Synonym für Liebe.
Es gibt keine funktionierende Familie, es gibt nur dysfunktionale Familien. Der Mensch ist dysfunktional. Das ist, was ihn zum Menschen macht.
Es geht Ihnen um Selbsterkenntnis – im Beruf wie im Leben.
Das Schöne an der Selbsterkenntnis ist ja, dass sie dem Gegenüber die Möglichkeit gibt, sich darin zu erkennen. David Lynch hat einmal gesagt, die Intelligenz in einem Kinosaal ist höher als die Summe derer, die anwesend sind. Das heißt, es entsteht etwas darüber hinaus, etwas Drittes. Das kann man Liebe nennen oder Energie oder auch Erkenntnis.
Selbsterkenntnis ist nicht reiner Selbstzweck. Wenn also im Film "Das Licht" Regisseur Tom Tykwer sich zu erkennen gibt, erhält das Publikum dadurch die Möglichkeit, sich selbst darin zu erkennen. Das heißt: Je persönlicher ein Film oder ein Kunstwerk ist, desto universeller gültig ist es. So verstehe ich Selbsterkenntnis.
Im Film begegnen wir einer dysfunktionalen Familie: Man lebt zwar gemeinsam, aber doch getrennt voneinander. Ab wann wird eine Familiendynamik toxisch?
Toxisch ist kein Begriff, den ich hinsichtlich einer Familiendynamik verwenden würde. Es wird heute sehr leichtfertig von einer dysfunktionalen Familie gesprochen. Es gibt keine funktionierende Familie, es gibt nur dysfunktionale Familien. Der Mensch ist dysfunktional. Das ist, was den Menschen zu Menschen macht.
Ist unsere Welt noch zu retten?
Es gibt ein Lied von Bertolt Brecht, von Hanns Eisler vertont, mit der Zeile: "Ändere die Welt, sie braucht es." Der letzte Satz des Liedes lautet: "Wer bist du?" Ich glaube, wenn wir die Welt oder uns selbst verändern wollen, müssen wir uns fragen, wer wir sind. Wenn wir unsere eigene Persönlichkeit zur Disposition stellen, können wir alle daran wachsen. Das ist nichts anderes als der analytische Gedanke der Selbsterkenntnis, von dem Sie vorhin gesprochen haben. Wenn ich mich selber öffentlich analysiere, gebe ich dem Gegenüber die Möglichkeit, sich darin zu begegnen. Und für mich ist Film einer der Orte, an dem wir uns selbst begegnen können.
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