Was Frankensteins Monster und die KI gemeinsam haben
Wissenschaftler und ihre künstlich geschaffenen Menschen. Gerade begeistert „Poor Things“ im Kino. Und Guillermo del Toro verfilmt Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“.
Der Forscher Victor Frankenstein ist wohl der berühmteste aller Leichenfledderer. Er bastelt aus Toten einen neuen Menschen zusammen. Mary Shelleys Roman um seine außer Rand und Band geratene Schöpfung funktioniert seit über 200 Jahren. Und sie ruft immer wieder neue Leichenfledderer – im besten Sinne – auf den Plan.
Gerade erfüllt sich der Meister der Kuriositätenkabinette und der schummrigen Phantastik einen Traum. Seit mehr als 10 Jahren plant Star-Regisseur Guillermo del Toro, sein Lieblingsbuch „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ zu verfilmen. Nun dreht er für Netflix – mit einer Besetzung, die alles andere als schlampig ist. Der aktuelle Liebling aller jungen Menschen, Jacob Elordi, soll das Monster verkörpern. Mit Christoph Waltz und Felix Kammerer gibt es eine wuchtige österreichische Beteiligung.
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Im Kino lässt Yorgos Lanthimos in „Poor Things“ gerade einen verrückten Wissenschaftler – eine Mischung aus Frankenstein und Frankensteins Monster – sein Unwesen treiben. Er holt eine junge Frau, gespielt von Emma Stone, aus dem Reich der Toten zurück und pflanzt ihr das Gehirn eines ungeborenen Kindes ein. Die Filmkritik ist entzückt.
Frankensteins Monster und seine Nachkommen: Neben Mary Shelleys Schauerroman gibt es wohl nur wenige Romane, die literaturgeschichtlich und popkulturell so einflussreich waren.
Es ist eine gruselige und fesselnde Geschichte, in der der narzisstische Student Victor Frankenstein eine namenlose, gelbäugige und später mordende Kreatur erschafft – weil er es kann. Und eine sehr tragische. Das an sich sensible Wesen, das der Forscher geschaffen hat, will eigentlich nur geliebt werden.
Von Gottkomplex bis Brexit
Das Werk wird immer wieder neu betrachtet und bewertet. In den Laboratorien der Literaturgeschichte hat man seither das Monster als Metapher für ziemlich vieles gedeutet. Natürlich – das liegt auf der Hand – als moralistische Warnung. Das kommt davon, wenn der Mensch Gott spielt. Und für noch vieles mehr.
Für „die Chartistenbewegung (unabhängige Arbeiterbewegung, Anm.) und die Gräuel der Sklaverei, für nicht-normative Maskulinitäten auf dem Weg des Home Makers, für Nature vs. Nurture und die postnatale Depression, für Vulkanausbrüche, Tschernobyl und den Brexit“, fasst Jochen Haug von der Staatsbibliothek Berlin einmal zusammen.
Und gerade jetzt zeigt Eileen Hunt Botting in ihrem Text „Godmother of intelligences“, wie sehr doch das Monster der künstlichen Intelligenz ähnelt. Shelley beschreibt die Kreatur als übermenschlich, nicht nur körperlich – sondern auch in der Geschwindigkeit der Auffassungsgabe. Sie kann mit sechs Monaten sprechen – schon recht früh. Und dann legt sie eine Bomben-Entwicklung hin. Bereits mit einem Jahr liest sie John Miltons episches Gedicht „Paradise Lost“. Die Sprache lernt sie, als sie sich in der Hütte einer französisch-türkischen Flüchtlingsfamilie versteckt. Das Wesen lernt, Gesichter und Sprechgewohnheiten der Menschen zu erkennen.
Das sind laut Hunt Botting alles Merkmale von so genanntem Deep Learning. Die Figur liest außerdem Goethe auf Deutsch und Plutarch auf Griechisch. Sie kann Handschriften lesen und Strategiespiele spielen und wie ein humanoides Konstrukt seine angenähten Körperteile bewegen.
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Aber das Wesen entwickelt Gefühle für die Menschen, die es beobachtet, seine „Freunde und Verwandten“. „Damals erschien mir jedes Verbrechen wie ein Übel, das vollkommen außerhalb meines Gesichtskreises lag. Ich meinte es wirklich gut und hoffte, ein nützliches Glied der kleinen Gesellschaft werden zu können, die ich bis jetzt kennengelernt hatte“, erzählt es. Es sind erst die negativen Erfahrungen mit Menschen, die diese Gestalt zum Übeltäter machen. Vor allem will Schöpfer Victor Frankenstein nichts von der Erfindung wissen.
Niemals verstoßen
„Als ihre Schöpfer müssen wir Menschen unsere Technologien genauso lieben wie unsere Kinder“, schreibt Botting, „denn in rauen und nachlässigen Händen werden sie monströs“. Schließlich kann künstliche Intelligenz menschliche Zivilisationen aufbauen oder zerstören.
Das Geburtsjahr von Schöpfer und Geschöpf ist 1816, der Geburtsort der Genfer See. Die 18-jährige Mary Shelley verbringt mit ihrem Mann Percy und dem gemeinsamen Freund Lord Byron ihren Urlaub in der Schweiz. Der Sommer ist verregnet, der indonesische Vulkan Tambora hat die Welt verdunkelt und abgekühlt. Was tun gelangweilte Dandys außer Opium rauchen? Sie erzählen sich Schauergeschichten. Lord Byron ruft zum Wettbewerb auf: Wer schreibt die gruseligste Story? Mary Shelley greift aktuelle wissenschaftliche Strömungen auf und verwebt sie zu Weltliteratur.
Großen Einfluss hatte William Lawrence. Dieser war zeitweise Hausarzt der Shelleys und ein medizinischer Revoluzzer. In seinen „Lectures on Physiology, Zoology, and the Natural History of Man“ verkündete er, wie Haug schreibt, „dass das Leben nicht durch Moleküle und chemische Reaktionen entsteht und nicht durch göttliche Interventionen“. Leben ist nach dieser Lesart etwas Physisch-Empirisches und kann daher auch künstlich erzeugt werden.
Die Idee eines geschaffenen Menschen ist an sich nicht neu. Die jüdische Mystik kennt den Golem, der seinem Schöpfer unterworfen ist. Im Mittelalter denken die Alchemisten über den künstlich geschaffenen, kleinen Homunkulus nach. Goethe lässt einen solchen etwa in Faust II auftreten.
Gothic Novel
Literaturhistorisch steht Frankenstein in der Tradition des Schauerromans, der Gothic Novel. Darin kann es um Mord und Totschlag gehen, um schummrige Bauten, böse Mönche oder um Verfolgung – gerne auch durch Doppelgänger. Mitunter sehen sie aus wie Menschen, sind es aber nicht.
Die Kritik ist von Shellys Roman, der 1818 erscheint, zunächst nicht wirklich angetan. Erst am Theater und später im Film stellt sich der Erfolg ein. Das Monster ist zum ersten Mal auf der Leinwand im Jahr 1910 zu sehen. Es folgen rund hundert weitere Verfilmungen.
Obwohl Shelleys Werk keine detaillierte Beschreibung des Ungeheuers enthält, hat die Darstellung durch Boris Karloff einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Eckige Kopfnähte, hohe Stirn, schwere Augenbrauen und die groben, totenähnlichen Gesichtszüge. Regisseur James Whale lässt ihn 1931 in „Frankenstein“ erstmals so auftreten und schafft damit einen Klassiker der Moderne.
Robert de Niro sieht der Kreatur aus dem Roman aber wohl ähnlicher. In der Verfilmung aus dem Jahr 1994 ist er mit Stichen und Narben übersäht. Er sieht aus wie von einem Leichenfledderer zusammengeschustert und nicht wie eine Figur aus dem Vergnügungspark.
Wie Guillermo del Toro das Antlitz inszenieren wird? Wir werden sehen. Und er wird sicher nicht der Letzte gewesen sein, der sich am armen Monster zu schaffen macht.
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