Eine grüne gläserne Plattform mit einem Park, der über der Wüste thront.

Nusantara, The Line und Co.: Wenn Städte am Reißbrett entstehen

Indonesien baut Nusantara im Dschungel, Saudi-Arabien träumt von "The Line" in der Wüste. Was passiert, wenn Vision auf Realität trifft?

Inmitten der üppigen Tropenwälder Borneos, wo sonst Orang-Utans durchs Gelände streifen und das Zirpen der Vögel die Luft erfüllen sollte, dröhnen die Bagger. Ein ehrgeiziges Projekt, das die Zukunft Indonesiens neu gestalten soll, wird aus dem Dschungelboden gestampft: Nusantara, die neue Hauptstadt. 

Während die vermüllte und luftverpestete Megastadt Jakarta wegen des Klimawandels langsam im Meer versinkt, soll Nusantara als Symbol für eine nachhaltige Ära erstrahlen. Die Regierung verspricht nicht nur eine Lösung für die städtischen Probleme der Gegenwart, sondern eine Vision, die Innovation und Natur miteinander vereint.

Herzstück ist der Präsidentenpalast, der über allem thront und aussieht wie der mythologische Garuda-Adler, das Wappentier Indonesiens.

Ein Glaspalast mit Seitenflügeln, die wie Vogelflügeln aussehen.

Herzstück der neuen indonesischen Hauptstadt Nusantara ist der Präsidentenpalast, der einem Adler gleicht.

©REUTERS/Willy Kurniawan

Das offizielle Indonesien hat die rund 32 Milliarden Euro teure Hauptstadt, die 2045 fertig sein soll, kürzlich eingeweiht. „Nusantara wird nach dem Konzept einer Waldstadt entwickelt – einer Stadt voller Grün, nicht einer Stadt aus Beton oder Glas“, sagte der Noch-Präsident Joko Widodo

Nusantara ist eine von vielen gewagten Retortenstädten

Nusantara fügt sich in eine Reihe von Retortenstädten ein, die – visionär oder  nicht – weltweit auf dem Reißbrett entstanden und in die Landschaft gesetzt wurden. Oft geschah dies mit Pomp und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, besonders wenn Nationen sich neu erfinden und ihre frische Identität in Gebäude und Grünflächen gießen wollten.

Bekannte Retortenstädte

  • Valletta, Malta: Der Grundstein für die Festungsstadt wurde 1566 gelegt. Valletta gilt als erste Planstadt nach der Antike.
  • St. Petersburg, Russland: Weg von Moskau. Peter der Große erklärte 1712 die neue Stadt zur Kapitale.
  • Washington, USA: Außenminister Thomas Jefferson erstellte erste planerische Skizzen für den Ort, der ab 1801 Hauptstadt der Vereinigten Staaten wurde.
  • La Grande-Motte: Betonpyramiden aus den 1960ern prägen das südfranzösische Seebad nahe Montpellier.
  • Abuja, Nigeria: Der berühmte japanische Architekt Kenzō Tange konzipierte die neue Hauptstadt, die Lagos 1991 ablöste .

Manchmal, wie im Fall von Canberra, geschah dies aus pragmatischen Gründen: Melbourne und Sydney, die größten Städte Australiens, sahen sich jeweils als die logische Hauptstadt. Als Kompromiss entstand zwischen ihnen im Landesinneren Anfang des 20. Jahrhunderts Canberra. Das Projekt Neom in der saudischen Wüste gilt als – positiv formuliert – kühnste Vision, andere bezeichnen es gerne als verrückteste. Es sollte die Stadt „The Line“ umfassen, die sich über 170 Kilometer erstreckt. Mittlerweile soll sie nur mehr zwei Kilometer lang sein.  Sollte dieses  Projekt je Realität werden, bleiben Fragen offen: Gelingen diese Experimente tatsächlich oder verbergen sich hinter den glänzenden Fassaden oft unerwartete Herausforderungen?

Von Rio in den Dschungel nach Brasília

Brasília, der Architekt Oscar Niemeyer seinen Stempel aufdrückte, ist zwar mancherorts unbestreitbar schön. Doch die Hauptstadt funktioniert nicht so, wie ursprünglich angedacht. Geplant als  moderne Stadt sollte Brasília ab 1960 mit ihren großzügigen, offenen Gebäuden Offenheit für Brasiliens Demokratie symbolisieren. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass die Stadt ihre Ziele nicht immer erreichen konnte.

Wie die NZZ berichtete, lautete die offizielle Begründung für den Bau Brasílias, das Hinterland zu erschließen. Doch das war nur die halbe Wahrheit: „Die Hauptstadt Rio de Janeiro war Mitte der 1950er-Jahre ein Tollhaus voller politischer Intrigen und putschlüsterner Militärs.“ Um einem möglichen Umsturz zu entkommen, ließ der Sozialdemokrat Juscelino Kubitschek das Land von einem rückständigen Agrarstaat in eine moderne Industrienation transformieren. Brasília als neue Hauptstadt sollte diesen Wandel verkörpern. Die Politik wollte demonstrieren, zu welchen Höhenflügen die ehemalige Kolonie Portugals in der Zukunft fähig ist, und wählte daher einen Grundriss in Form eines Flugzeugs.

Oscar Niemeyer fügte den geraden Linien, die in der Moderne so angesagt waren, geschwungene Kurven hinzu. Dies ist besonders an der Kathedrale zu erkennen, die der atheistische Kommunist entworfen hat. „Was mich anzieht, sind die freien und sinnlichen Kurven, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten Frau“, wurde er oft zitiert.
 

Die berühmte Kathedrale sieht ein bisschen aus wie ein Kegel. Sie kombiniert viel Glas und Beton.

Oscar Niemeyer drückte  Brasília seinen Stempel auf. Die Kurve hatte es ihm angetan – wie hier bei der Kathedrale 

©Getty Images/R.M. Nunes/istockphoto

Was schön fürs Auge ist, muss jedoch nicht gut für die Bewohner sein: Es fehlen Gehsteige und Bäume – und das in den Tropen, mit sengender Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit.
Bereits einige Jahre zuvor hatte der Schweizer Architekt Le Corbusier eine Stadt entworfen, die die Ideale der Moderne – Licht, Luft und Sonne – verwirklichen sollte: Chandigarh in der indischen Provinz Punjab. „Frei von den Traditionen der Vergangenheit“, sollte sie nach Wunsch des Meisters sein. Die Stadt sollte grün und voller Gärten sein. Bäume wurden gepflanzt, und das Fällen war durch ein Edikt untersagt.

Der Verkehr war auf verschiedene Geschwindigkeiten abgestimmt, wobei die Fußgänger im Mittelpunkt stehen sollten. Le Corbusier legte Boulevards im europäischen Stil an und plante Gebäude aus Rohbeton. Was einst als Utopie galt, wirkt heute schlecht gealtert. Die Bezirke sind wie Inseln, die durch den massiven Verkehr voneinander getrennt sind. 

Le Corbusiers Chandigarh war kleiner

Die Stadt war ursprünglich für 500.000 Menschen ausgelegt, mittlerweile leben dort jedoch mehr als eine Million. Le Corbusier hatte mit einem Edikt Umbauten verboten, und die Preise für den knappen Wohnraum steigen.

Ein riesieger Betonbau mit bunten Stützen steht hinter einem künstlichen Wasserbecken.

Architekt Le Corbusier schuf in der Nachkriegszeit in Indien mit Chandigarh eine Stadt „frei von Traditionen der Vergangenheit“. 

©mauritius images / Alamy Stock Photos / Dinodia Photos RM/Alamy Stock Photos / Dinodia Photos RM/mauritius images

Während in Chandigarh noch der Optimismus der frühen Nachkriegszeit spürbar ist, als Städte als Symbole einer besseren, rationalen Welt entworfen wurden, soll in Astana geopolitische Ambition und futuristischer Glamour demonstriert werden. Das Erdöl und das damit fließende Geld machen es möglich.

Glänzende Macht in Astana

Im Jahr 1997 wanderte der Titel der Hauptstadt Kasachstans von Almaty nach Astana. Dort funkelt nicht nur der Glanz des Hauptstadtstatus, sondern auch die beeindruckenden Bauwerke.  Wahrzeichen ist ein Turm, auf dessen Spitze eine goldene Kugel thront. Diese Kugel symbolisiert das Ei des heiligen Vogels Samruk, der laut kasachischer Legende jedes Jahr ein Ei in die Krone eines riesigen Lebensbaums legt.

Der damalige autoritäre Staatspräsident Nursultan Nasarbajew soll persönlich den Plan für das Bauwerk auf einer Serviette entworfen haben.

Ein großer Turm inmitten von Hochhäusern mit einer goldenen Kugel an der Spitze.

Astana in der Wüste Kasachstans ist seit 1997 die pompöse Hauptstadt. Öl-Milliarden machen’s möglich. Der Legende nach soll der damalige Präsident den prägnanten Turm auf einer Serviette entworfen haben  . 

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 Sarsembek Zhunusov, der Chefarchitekt der Stadt, erinnerte sich laut National Geographic an die Einwände seiner Kollegen, als Nasarbajew den Bau einer großen Pyramide in Astana gefordert hatte. „Unsere Leute sagten, es gebe doch schon genug Pyramiden“, erzählte Zhunusov. „Für eine wirklich neue Pyramide brauchte man auf jeden Fall einen großen Architekten.“ Der Brite Norman Foster erhielt den Auftrag und entwarf die Pyramide des Friedens und der Eintracht. Auch das Einkaufszentrum Khan Shatyr, das „Königszelt“, stammt aus seiner Feder – ein Gebäude, das entfernt an eine traditionelle kasachische Jurte erinnert.

Celebration von der Walt Disney Company

Die Stadt wirkt surreal – fast wie ein Disneyland. Celebration in Florida setzt dem noch die Krone auf: Ein Ort, der wie ein Traum aus der goldenen Ära Amerikas erscheint. Weiße Lattenzäune umgeben gepflegte Vorgärten, und die Straßen sind von klassischen Laternen gesäumt. Es ist, als hätte jemand die Essenz des amerikanischen Kleinstadtlebens destilliert und in diese künstlich geschaffene Oase gegossen. Celebration  ist das Produkt einer Vision, die in den Labors der Walt Disney Company Gestalt annahm –  in einer Zeit, in der der amerikanische Traum zunehmend infrage gestellt wurde.  

Ein buntes Haus, das aussieht wie in den Südstaaten des 19. Jahrhunderts, vor dem Palmen stehen.

Die Walt Disney Company schuf mit Celebration in Florida eine scheinbar ideale US-Kleinstadt.  

©mauritius images / Alamy Stock Photos / Richard Ellis/Alamy Stock Photos / Richard Ellis/mauritius images

Schon Walt Disney wollte in den Sechzigern eine neue Stadt bauen. Allerdings sah die eher so aus, wie man sich damals die Zukunft vorstellte: viel Glas und Magnetschwebebahnen. Celebration war dann eher das, was man von den Vergnügungsparks gewohnt ist. „Es war wie auf einem Volksfest: Eine Brassband spielte, Hotdogs wurden gereicht und Luftballons an die Kinder verteilt“, sagte ein Augenzeuge dem Spiegel.

Doch der Spaß war bald vorbei: Die Regeln der Stadtoberen waren zu strikt, und viele Bewohner verließen die Stadt wieder. Schon 2004 verkaufte Disney einen Großteil der Stadt an einen Investor. 

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember 2020 über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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