Zurücklehnen und gleichzeitig eintauchen – digitale Kunst, wie hier „Immersive Van Gogh“, muss man erlebt haben

Immersive Art: Lichtblicke in der Kunst

360-Grad-Erlebnis: Immersive Art erobert die Welt mit Lichtprojektionen, die sich an zehn Meter hohen Wänden und Säulen emporschlängeln.

von Nicola Afachar-Negad

Es hat schon etwas Zynisches. Vincent van Gogh, der zeitlebens nur ein einziges Bild verkaufte – und das an seinen Bruder – bewegt im Jahr 2021 die Massen wie kein anderer Maler. Alleine in den USA gibt es derzeit über vierzig digitale Van-Gogh-Ausstellungen. Allein für „Immersive Van Gogh“ wurden in den USA seit der Premiere im Sommer 2020 mehr als zwei Millionen Tickets verkauft. Absoluter Blockbuster-Status! Und „Immersive Van Gogh“ ist nur einer der Veranstalter! Am 18. November startet etwa „Van Gogh Alive“ in Wien, nur einen Tag später „Van Gogh – The Immersive Experience“. Aber warum macht sich gerade die Kunst des Niederländers so gut als „Experimental Art“? Zum einen gilt das Werk des Post-Impressionisten als leicht zugänglich. Ein Bad im visualisierten Sonnenblumenmeer – das begeistert einfach. Zum anderen dürfte aber auch eine gewisse Emily aus New York ihren Teil dazu beigetragen haben. Die Netflix-Erfolgsserie „Emily in Paris“, um genau zu sein. In einer Szene sitzt die Protagonistin auf dem Boden einer der digitalen Van-Gogh-Ausstellungen und führt tiefschürfende Gespräche im Licht des berühmten „A Starry Night“-Gemäldes. Die epidemiegeplagten Netflix-Zuseher wollten genau das auch. Große Gefühle, große Kunst, vielleicht auch ein paar Herzen auf Instagram. Und da man seit März 2020, wenn es ums Reisen geht, relativ eingeschränkt war, strömten die Massen in die „Immersive Art“-Ausstellungen. „Immersive“ bedeutet so viel wie „eintauchen“ – und das in der neuen Generation der multisensorischen Kunstpräsentation ganz ohne Augmented-Reality-Brille (wobei es die bei „Van Gogh – The Immersive Experience“ auch gibt).

Die Van-Gogh-Ausstellungen mutierten in den USA zum Hype. Mehrere Veranstalter matchen sich um Millionen von Tickets. Die Netflix-Serie „Emily in Paris“ war ein Boost.
 

©Nina Westervelt

Erfolg und Kritik Kunst mag seit jeher im Auge des Betrachters liegen, 2021 liegt sie auch in seinen Händen. Denn: Van Gogh reagiert auf seine Besucher. Beispiel „Immersive Van Gogh“ in New York City: Besucher können dem Künstler eine Frage stellen – und dieser antwortet in einem personalisierten Brief.

Wo viel Erfolg, da auch viel Kritik. Die neue Ära der Kunstvermittlung wird vielfach als Spektakel abgetan, als reine Show. Die 100 Projektoren, die etwa bei „Immersive Van Gogh“ im Einsatz sind, könnten einen so stark blenden, dass das Wesentliche verblasst. Viele, die sich schon darauf eingelassen haben, berichten aber, dass sie die Kunst tief berührt und emotional getroffen habe. Die Antwort auf das „Wie“ gab der italienische Multimedia-Artist Massimiliano Siccardi – in den Credits von „Immersive Art Van Gogh“ in NYC als „Creator“ angeführt – in einem Interview mit dem „Las Vegas Review Journal“. Die größte Herausforderung sei es, „eine 360-Grad-Ansicht von Van Gogh zu jedem Zeitpunkt zu ermöglichen“ und: „Ich musste sichergehen, dass jeder Moment eine Geschichte erzählt.“ Gearbeitet wurde wie im Film mit Drehbuch – die Bilder wurden zum Skript passend gewählt.

All die Lichtgestalten

Das Pariser „Atelier des Lumières“ hat seit seiner Eröffnung 2018 neben Van Gogh auch Leonardo da Vinci und Klimt erleuchtet – derzeit (bis 2. 1. 22) läuft eine Dalí-Schau. Der Soundtrack zu den surrealistischen Bildern, die sich um Säulen schmiegen und bis zur Decke ranken, liefert die Kultband Pink Floyd. Neben diesem 45-Minuten-Langprogramm gibt es auch einen Zehn-Minüter zur Arbeit des Architekten Gaudí. Expansion ist auch hier ein Thema. Bordeaux, Amsterdam, Seoul und: NYC. 2022 eröffnet „Halles des Lumières“ im Stadtteil Tribeca. In Asien, genauer gesagt Japan fährt das Künstlerkollektiv „teamLab“ seit 2001 eine inhaltlich andere Schiene. Hier steht nicht ein namhafter Maler im Fokus, sondern das Wechselspiel zwischen Mensch und Natur.

Unendlich viele Lampen – und noch mehr Fotos davon. Die interaktive Installation „Forest of Resonating Lamps“ ist der Insta-Darling schlechthin im „teamLab Borderless“ in Tokio 
 

©APA/AFP/BEHROUZ MEHRI

Die Kunstwerke seien „grenzenlos“ sagen die Macher. Die Trennungslinien zwischen einem selbst, anderen und der Welt werden fließend. Wem das zu esoterisch klingt, sei beruhigt: diese „Once in a lifetime“-Ausstellungen machen vor allem schlichtweg Spaß. Die Szenerien in den einzelnen Museen sind atmosphärisch, ja sphärisch, wie von einer anderen Welt – und das obwohl teamLab ausschließlich mit Motiven spielt, die real existieren. Der „Forest of Resonating Lamps“ wurde etwa zum Instagram-Phänomen. Und so berühmt, dass es heutzutage kaum mehr möglich ist, ein Bild von sich alleine inmitten der Laternen (die auf einen reagieren) zu bekommen. Und das trotz ex-trem knapp bemessener Timeslots in diesem Raum des „teamLab Borderless“-Museums in Tokio. Das „Museum ohne Lageplan“ ist ein durchschlagender Erfolg, es verzeichnete im ersten Jahr gleich 2,3 Millionen Besucher. Zum Vergleich: In den Museen-Verband des Kunsthistorischen Museums strömten 2019 rund 1,7 Millionen Besucher. Bucket-List-Experten empfehlen bei einem Tokio-Trip eventuell auf „teamLab Planets“ auszuweichen. Barfuß watet man hier durch Wasser, das mit visualisierten Koi-Fischen gefüllt ist (die sich bei Berührung in Blumen verwandeln) und starrt im Garten der schwebenden Blumen ins Endlose. Letzteres ebenfalls ein sehr angesagtes Instagram-Motiv.

Digital abtauchen in die Traumbilder Salvador Dalís – in einer alten Fabrikhalle 
nahe des Friedhofs Père Lachaise, im Atelier des Lumières

©© eric spiller - culturespaces

„teamLab“-Ausstellungen laufen derzeit auch in San Francisco und Miami („Every wall is a door“ ist ein vielsagender Titel!). Statt nach Übersee zu jetten, kann man bis 2024 warten – dann eröffnet das erste „teamLab“-Museum in Europa – und zwar in Hamburg, auf 7.000 m² Fläche. Das Motto: „Touch. Be touched.“ Auch das sagt eigentlich alles.

Das zieht auch Kunstmuffel an: Antoni Gaudí, der „Architekt des Imaginären“, aus völlig neuer Perspektive 

©Culturespaces / E. Spiller

Übrigens: das Museum soll klimaneutral sein – und das klingt doch nach dem besten Wechselspiel zwischen Mensch und Natur überhaupt.

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