Go WEST:Es braucht Zeit, um den Westen Kanadas kennenzulernen
Wer sich darauf einlässt, nähert sich ihm am besten dreifach an – auf dem Wasser, auf dem Boden und aus der Luft.
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Juni bis Mitte Oktober
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Ottawa
Von Benjamin Breitegger
Es ist nichts zu spüren, als die Schwimmer des Wasserflugzeugs vom Meer abheben. Sanft lässt Josh die Maschine steigen, immer höher, das Dröhnen der Motoren im Ohr, bis sich eine Weite erstreckt, die wir bisher nur erahnen konnten. Wie ein überdimensionales Gemälde liegt Westkanadas Wildnis vor uns: die Bucht, in der am Vortag die ersten Schwertwale der Saison ihre schwarz-weißen Köpfe hoben; Nadelwälder, die steile Felswände hochklettern; näher kommende, wolkenverhangene Bergspitzen, auf denen Schneereste aufblitzen.
In British Columbia, elf Mal so groß wie Österreich, leben weniger als fünf Millionen Menschen, und die Hälfte tummelt sich in der Metropole Vancouver. Nördlich davon erstreckt sich die Weite eines Landes, das nicht zu enden scheint. Hier hat der Mensch den Wäldern nur ein paar Straßen abgerungen, die Wildnis wuchert auf Hunderten Inseln. Man befindet sich auf dem Territorium der First Nations. Es braucht Zeit, um den Westen Kanadas kennenzulernen. Wer sich darauf einlässt, nähert sich am besten dreifach an: auf dem Wasser, auf dem Boden – und aus der Luft.
Wir sind an Bord einer Beaver aus US-Militärbestand der 1950er-Jahre, die zu einem Wasserflugzeug umgebaut wurde. Sieben Personen haben Platz. Die Bordgeräte flackern wie vor siebzig Jahren, nur der Motor ist neu, im Cockpit hängt ein iPad mit GPS-Koordinaten. Wie oft er das Modell schon geflogen ist, fragen wir Josh Ramsay, den Buschpiloten. „Heute das zweite Mal“, scherzt er und grinst. „Aber wir werden keine Kunstflugrollen machen.“ Seit 17 Jahren fliegt er bereits, seit zwei Jahren zeigt er Touristen mit „Sunshine Coast Air“ die Küstenregionen von British Columbia, hier, wo die Luft- und Wasserwege Straßen und Schienen ersetzen.
Als er die knatternde Maschine nach rechts dreht, eröffnet sich ein Fenster in eine verborgene Welt. Moosbewachsene Felsen leuchten grün im Wasser, vom Schnee gespeiste Wasserfälle stürzen bewachsene Klippen hinunter, wie eine Familie weißer Schlangen, die sich durch den Urwald schlängelt. Zwischendurch Kahlschläge. Die Beaver gleitet als kleiner Punkt Hunderte Meter hohe Wände entlang, sinkt langsam und setzt am Ende des Wasserarms auf.
Nach einem kurzen Fußmarsch donnern vor uns die Chatterbox Falls in die Tiefe, so breit wie vier Kanus. Steine trotzen der Gischt, das Grün rundherum protzt in allen Schattierungen. In den nächsten Ort geht es an diesem Punkt nur über die Jervis-Bucht, die an manchen Stellen 800 Meter tief ragt. Angehörige der Shishalh-Nation haben vor Hunderten von Jahren Felspiktogramme angebracht, die Lachse und Wale zeigen – und dabei eine Mischung aus Gemüsepaste, Bärenfett und Fischöl verwendeten, die bis heute der Sonne standhält.
Heute leben 198 „First Nations“-Gruppen in British Columbia, sie sprechen verschiedene Sprachen, leben unterschiedliche Traditionen. Schilder weisen darauf hin, auf wessen Territorium man sich gerade befindet: das der Musqueam (in Teilen des heutigen Vancouvers) beispielsweise, der Shíshálh (Sechelt) oder der Sliammon (Tla’amin), einer Nation mit heute gut 1.000 Mitgliedern. In der Region fasst man diese Gruppen als die Küsten-Salish zusammen, auch weil sie verwandte Sprachen sprechen. Das offizielle Kanada bemüht sich um ein gutes Verhältnis mit Indigenen, es begeht dieses Jahr seinen 150. Geburtstag. Ottawa feierte am 1. Juli mit Feuerwerken, es gab Gourmetdinners und Konzerte. Doch es bleiben 150 Jahre Kolonialgeschichte. Nicht jeder kann mitfeiern.
Was die First Nations vereint, ist neben der Kolonialgeschichte ihre Verbindung mit der Natur. Ihren Boden lernt man am besten kennen, in dem man ihn erwandert. In der Nähe von Powell River, einem 13.000-Einwohner-Ort, treffen wir auf Eagle Walz. Den Vornamen Eagle, Adler, habe er nach einer Begegnung mit dem mächtigen Tier angenommen; er konnte mit ihm kommunizieren, sagt Walz. Walz hat den Grund, auf dem sein Haus steht, auf 99 Jahre von der lokalen First Nation Tla'amin gepachtet. Diese hat 2016, nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen, einen Vertrag mit der Provinz umgesetzt. Die Tla'amin erhielten mehr als 8.000 Hektar Land zurück sowie das Recht, Gesetze auf ihrem traditionellen Territorium zu erlassen.
Eagle Walz, 70 Jahre alt, weißer Bart, khakifarbenes kurzes Hemd, kurze Hose, kommt ursprünglich aus Deutschland. Schon als Junge, als er noch Reinhard hieß, wanderte er gerne. „I ran across the Schwäbische Alb“, sagt er, „here, there, every-where.“ Immer wieder wechselt er vom Deutschen zurück ins Englische, so muss er die richtigen Wörter nicht erst suchen. Als er in den 1960er-Jahren an Bord eines Schiffs im Hafen von Rotterdam ging, begann sein Abenteuer. Nach sieben Tagen auf hoher See war er in Kanada, wo seine Familie bereits lebte, zuerst in der Provinz Saskatchewan, später in British Columbia.
Walz ist „Mister Sunshine Coast Trail“. In den 1990er-Jahren kundschafteten er und eine Handvoll Naturliebhaber Wege aus und errichteten Campingplätze. Auf Holzfällerkarten zeichneten sie damals den Altbestand ein, sie wollen die Natur schützen und gleichzeitig für alle erlebbar machen. Heute führt der Sunshine Coast-Wanderweg 180 Kilometer entlang der Küste, über Gipfel und durch Urwald. Von Frühling bis Herbst herrschen angenehme Temperaturen, einen Winter wie im Osten Kanadas kennen die Menschen hier nicht, selten sinkt die Temperatur unter null. Der nördliche Teil des Wanderwegs bleibt das ganze Jahr schneefrei. Wir starten bei Kilometer 46. Immer wieder bleibt Walz stehen und zeigt mit seinem Teleskopstock auf die Heidekrautgewächse, auf Korallenwurzen und den Arbutis, den Amerikanischen Erdbeerbaum, der statt seiner Blätter Rinde verliert; spiegelglatte hellbraune Stämme ranken am Wegesrand.
Die Route ist gut ausgeschildert. Wir rasten auf einem moosbewachsenen Felsen und blicken auf den Powell Lake. Das Land zieht sich bis an den Horizont. Zwei Stunden lang sind wir keinem anderen Wanderer begegnet, es ist still, nur der Wind bläst durch die Baumwipfel.
Alle 15 bis 20 Kilometer entlang des Trails steht eine Unterkunft; man kann hier gratis schlafen. Nur bei Powell River gibt es keine Hütten. „Die Wanderer sollen im Ort übernachten“, sagt Walz, „sie sollen die Einheimischen kennenlernen“. Walz hält den Sunshine Coast Trail ehrenamtlich in Schuss, er sagt: „Wir tragen Kettensägen spazieren.“ Wege heißen etwa Lost Lake oder Tin Hat Mountain, ein anderer Suicide Pass. Wie viele Besucher jährlich wandern, kann Walz nur schätzen, da sich nicht alle Besucher in die Hüttenbücher eintragen. Es dürften durchschnittlich zehn pro Tag sein, jedes Jahr ein paar mehr.
Auf dem Weg ins Tal werden wir daran erinnert, dass wir in Kanada sind. Alle paar Hundert Meter liegt kalter Bärenkot am Weg. Eine Gruppe lärmt normalerweise genug, um den Bär rechtzeitig zu warnen und zu vertreiben. Wandert man alleine, kauft man sogenannte Bärenglocken, die man an seinem Rucksack anbringt. Ob er einen kanadischen Bärenwitz kennt? „Wie unterscheidet man Schwarzbären- von Braunbärenkot?“, fragt Walz und lächelt. „Im Schwarzbärenkot befinden sich Beeren, im Braunbärenkot die Bärenglocke.“
Geht man den Sunshine Coast Trail bis ans Ende, kommt man an eine Stelle, an die man sich vorab ein Wassertaxi bestellt haben sollte. Sarah Point wurde nach einer Schwester George Vancouvers benannt, der hier im 18. Jahrhundert segelnd die Küste erkundete. Der Weg fällt an dieser Stelle steil ins Wasser ab.
„Zur nächsten Straße stapft man eineinhalb Tage“, erzählt Römer. Im seinem Schlauchboot pflügen wir die Küste entlang. „Die Notausgänge sind rechts, links, vorne und hinten.“ Römer heißt mit Vornamen Jan, er kommt ursprünglich aus Hamburg. In den 1990er-Jahren hat er sich ein Haus in Powell River gekauft. Früher hat er als so genannter Fischereibeobachter kommerzielle Fischer kontrolliert, heute führt er hauptsächlich Kajaktouren entlang der Küste. Im Zodiac-Schlauchboot war er im Vorjahr 500 Stunden unterwegs.
Der Himmel ist bewölkt, die Landschaft wirkt entsättigt und rau. Nur der Wind und das Motorengeräusch des Schlauchboots sind zu hören.
Kleinere Inseln erheben sich neben größeren, wie eine schlafende Schildkröte, deren Kopf und Schild aus dem Wasser lugen. Aus dem am Ufer wachsenden Gras blicken Kanadagänse hervor. Römer drosselt den Motor, als wir uns einer Insel nähern. Wie im Moorhuhn-Spiel erscheinen abwechselnd und an verschiedenen Stellen kleine Köpfe im Wasser, um dann kurz darauf wieder zu verschwinden. Es sind Seelöwenbabys, die uns neugierig beobachten. „Die alten können bis zu 100 Meter tief tauchen“, erklärt Römer. „Die Jungen können es noch gar nicht.“ Deswegen hole die Schwachen oft der Truthahngeier. Ein Adler, der über uns kreist, könnte auf der Suche nach Nestern von Seemöwen sein, um diese zu plündern.
Die Robben, so sagt man uns, werden hier auch „Orca sausage“ genannt, Walwürstel. Und man erzählt sich die Geschichte eines Mannes, der vor langer Zeit donnerstags immer in die Kneipe kam, bis er eines Tages wegblieb. Tage später fand man sein leeres Boot, auf dem nur sein Hund bellte. Noch heute solle man bei seinem Haus nächtens ein Bellen hören. Das Meer kann ein unheimlicher Ort sein.
Es gibt hier eine Stelle, die sich „Desolation Sound“ nennt, die Meerenge der Trostlosigkeit. Wer sich vom Namen nicht abschrecken lässt, kann die raue Küste erleben – und bis zu zwei Wochen auf einer Insel zelten. Nach Lund (in der Tla’amin-Sprache Klah-Ah-Men) kommt man von Vancouver aus mit dem Wasserflugzeug. Mit dem Auto braucht es ein paar Stunden und zwei Fährüberfahrten. Lund – das ist auch der Endpunkt des „Pacific Coastal Highway“, der mehr als 15.000 Kilometer weiter südlich in Chile beginnt. Oder aber Kilometer 0, Startpunkt für Abenteurer.
Als hätte es ihn noch gebraucht, folgt am Heimweg der Beweis, dass hier der Mensch der Natur nur ein kleines Stück abgerungen hat. Am Rande einer Straße, am Ende eines Fußballfelds, trottet eine Schwarzbärmutter mit ihrem Jungen.
Sein Fell schimmert matt. Es frisst Grünzeug; noch hat die Lachssaison nicht begonnen. Ungestört von immer mehr Beobachtern wühlt es sich durch die Sträucher, dort, wo die Einwurflinie des Fußballfeldes sein sollte. Erst als ein Einheimischer lautstark auf sein Autoblech trommelt, dreht die Mutter müde ihren Kopf. Sie blickt uns an, als wolle sie sagen: Du bist hier in meinem Land.
Info
British Columbia (kurz: BC) liegt an der Pazifikküste im Westen Kanadas. Die Provinz ist elf Mal so groß wie Österreich, bei weniger als fünf Millionen Einwohnern. 27.000 Kilometer zerklüftete Küsten, 800 Provincial Parks und sieben Nationalparks – für Naturfans ist British Columbia ein Paradies. 7.500 Österreicher waren im
Vorjahr zu Besuch.
Die größte Stadt ist Vancouver mit 2,5 Millionen Einwohnern, davon 40 Prozent Einwanderer. Vancouver nimmt im Ranking der lebenswertesten Städte weltweit jedes Jahr einen Topplatz ein. Drei indigene Gruppen Kanadas haben hier ihr traditionelles Territorium: die Musqueam, die Squamish und die Tsleil-Waututh First Nation. Während Kanada dieses Jahr 150 Jahre (Kolonial-) Geschichte feiert, veranstaltet Vancouver Events unter dem Titel „150+“; es will damit die Kulturen der indigenen Bevölkerung hervorheben.
Lufthansa und Condor fliegen aus Deutschland direkt nach Vancouver. British Airways ein Mal täglich ab London, Air France drei bis fünf Mal wöchentlich nonstop von Paris.
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