Backstage: Die Wiener Sängerknaben machen das Beste aus dem Lockdown

Musikstars kommen und gehen, aber sie sind seit 500 Jahren eine fixe Institution: die Wiener Sängerknaben. Hinter den Kulissen der ältesten Boyband der Welt im Wiener Augarten.

"Halleluja, Halleluja“, schallt es fröhlich aus gut zwei Dutzend junger Kehlen. Probe des Schubertchors der Wiener Sängerknaben im Augartenpalais. Von einer Wand blickt ein gerahmter Franz Schubert in die Runde, vis-à-vis hängt die King’s Cross-Bahnhofsuhr aus „Harry Potter“. In einem Halbkreis um den Chorleiter gruppieren sich die Buben hinter großen Notenpulten.

„Bitte, Takt 22“, hebt Dirigent Oliver Stech die Stimme, schlägt die Akkorde zu dem Klassiker von Händel an und ein noch stimmungsvolleres „Halleluja, Halle-lu-ja“ kommt als Antwort.

Ausnahmesituation im Wiener Augarten. Eigentlich wollte die Freizeit live und vor Ort bei der Probe Zaungast sein. Der Lockdown aber hat unseren Plan vereitelt. Schade, sehr schade. Aber was für uns ein kleines Problem ist, wird für die Sängerknaben immer mehr zu einer historisch einzigartigen Herausforderung. Wir können per Video und Handy etwas von der einzigartigen Atmosphäre in der barocken Ausbildungsstätte aufsaugen. Der ältesten Boyband der Welt aber wird wegen laufender Konzert- und Tourneeabsagen weiterhin untersagt, vor Publikum zu singen.

Der zwölfjährige Philip und sein Kollege Stefan nehmen es dennoch tapfer. „Ich bin traurig, dass die Tournee abgesagt wurde“, jammert Stefan zwar kurz. Aber gleich darauf erinnert sich Philip daran, wie lustig es im Sommer war, als sie noch auf einer Welle dahinschaukelten.

Im Matrosenanzug

Im Sommer schien noch alles möglich zu sein. Das Fotoshooting für das neue Album „Together“ fand am Neusiedler See statt, in Podersdorf am See. Sie hockten mit dem traditionellen Matrosenanzug in einem Boot, die Ruder in der Hand und die nächsten Auftritte im Kopf. „Davor haben wir in Ljubljana/Laibach das Publikum begeistert“, berichten beide unisono. Demnächst geben sie die Reihe „Gute Hirten“ auf ihrer Konzertbühne im Augarten, dem Musiktheater MuTh. Live. Aber ohne Publikum, sondern als Stream auf myfidelio.

Übrigens, warum tragen die Sängerknaben einen Matrosenanzug? Als sie 1924 ihre Uniform erhielten, war dieser Style groß in Mode. Die Anregung für den Bundesadler auf der linken Brustseite stammt übrigens von Walt Disney.

©Lukas Beck/Wiener Sängerknaben/lukas beck

Wie kommen sie damit zurecht, dass es nun schon im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zu Wiener Sängerknaben zu Absagen kommt? „Wir sitzen alle in einem Boot“, greifen Philip und Stefan klug das Thema ihrer letzten Aufnahmesession auf. Unter der Kuppel der Hofburgkapelle sangen sie eine Reihe von Liedern ein, die einen beim Zuhören um die Welt tragen sollen: vom karibischen „Banana Boat Song“ über einen Walfänger-Shanty aus Neuseeland bis zu Willie Nelsons altem Country-Hit „On the Road Again“.

Privat hören die Wiener Sängerknaben durchaus auch Pop à la Ed Sheeran. Für die Karriere aber dürfen es ruhig Hits aus der reichhaltigen Literatur des Chorgesangs sein, sogar wenn es sich um für uns eher exotische Stücke aus dem asiatischen Raum handelt.

Apropos Asien

Im Normalfall sind die Sängerknaben bis zu elf Wochen im Jahr „on the road“. In Japan, Südkorea oder Taiwan zählen sie zu den gern gesehenen – und vor allem gehörten – Attraktionen. Auch auf der Chinesischen Mauer haben sie schon ihre Spuren hinterlassen. Damit sich dieses Pensum bewerkstelligen lässt, wurde der Schulbetrieb in Trimester unterteilt: zwei Trimester Ausbildung, ein Trimester Reisen.

Das Reisen als junge musikalische Kulturbotschafter ist es auch, was die Karriere als Wiener Sängerknabe so begehrt macht. Eine kurze Karriere wohlgemerkt. Denn spätestens mit dem Stimmbruch ist es vorbei mit der Mitgliedschaft im Knabenchor. Aber bei welcher anderen Gelegenheit kommt man schon als Teenie rund um die Welt? Leider eben nur als Teenie. Nicht zufällig heißt es Sängerknaben.

Hängt also das zunehmende Alter wie ein Damoklesschwert über jedem Neuzugang? So auf die Art: Vier Jahre Sängerknabe und dann Tschüss? Muss nicht sein. Viele der Nachwuchsstimmen bleiben bei einer musikalischen Ausbildung. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe singen in ihrem eigenen Jugendchor, dem Chorus Juventus, der als gemischter Chor auch öffentlich auftritt.

Matrosenanzug in einem Binnenland, warum nicht? Als die Sängerknaben 1924 ihre Uniform erhielten, war dieser Style groß in Mode. Die Anregung für den Bundesadler auf der linken Brustseite stammt übrigens von Walt Disney.

Quartett der vier Chöre

Der Wiener Sängerknabe Philip, der wie Harry Potter ebenfalls eine runde Hornbrille trägt, sieht jedenfalls positiv in die Zukunft. „Ich würde gerne weiterhin etwas mit Musik machen“, vertraut er uns an.

Möglichkeiten dazu gibt es genug. Derzeit befinden sich etwa hundert aktive Wiener Sängerknaben im Augartenpalais, die sich auf vier Konzertchöre aufteilen. Sie alle sind nach Komponisten benannt, die eng mit der langen Geschichte dieser Institution verbunden sind; als da sind: Brucknerchor, Haydnchor, Mozartchor und eben der Schubertchor. Kapellmeister Oliver Stech ist der Leiter dieses Chors. Er selber stammt aus dem Mostviertel, die Kinder aber sind sowohl national als auch international sehr breit aufgestellt. Sie kommen aus Wien, Niederösterreich, Kärnten, Oberösterreich und der Steiermark genauso wie aus Deutschland, England, Frankreich, Rumänien, Ungarn, Südkorea, Japan und China.

Vom Hof zum Verein

Bis 1918 sangen die Wiener Sängerknaben ausschließlich im Auftrag des Hofes. Seit den 1920er-Jahren ist die einst 1498 von Kaiser Maximilian I. ins Leben gerufene Institution als privater Verein neu organisiert. Ursprünglich wurden die Knaben dazu ausgebildet, um nach burgundischem Vorbild die Heilige Messe in der Hofkapelle gesanglich zu umrahmen.

Heute werden die Kinder mit möglichst vielen Arten von Musik vertraut gemacht, damit sie später auch unterschiedliche künstlerische Berufe ergreifen können: Etwa ein Viertel der Schüler wird in der Folge Komponist, Dirigent, Sänger oder Instrumentalist, so Tina Breckwoldt, die Dramaturgin des Hauses.

Wie Philipp und Stefan hoffen auch alle anderen Buben wie auch Erwachsenen im Palais auf ein Ende der Pandemie. Bisher mussten mehr als 500 Konzerte abgesagt oder verschoben werden. Sämtliche Auslandstourneen wurden bis Anfang 2022 abgesagt, das heißt, die Ausfälle im laufenden Budget betragen über 70 Prozent.

©Lukas Beck/Wiener Sängerknaben

Wie geht es jetzt weiter? Mit Proben, Proben und nochmals Proben. Sieht man dabei Chorleiter Oliver Stech und den Knaben des Schubertchors über die Schulter, spürt man, dass es Musik, und besonders die Ausübung davon, sehr wohl vermag, einen über eine schwere Zeit hinwegzuhelfen.

Außerdem gibt es da noch eine leise Hoffnung auf ein Happy End. Am 14. Dezember steht im Stephansdom ein Adventkonzert mit den Wiener Symphonikern auf dem Programm, unter anderem mit J. S. Bachs Weihnachtsoratorium „Jauchzet, frohlocket“.

Halle-luja, Halle-lu-ja!

Die Wiener Sängerknaben

Traditionell sind Knabenchöre der Kirchenmusik verbunden.  Die im Jahr 1498 gegründeten Wiener Sängerknaben sind dabei keineswegs der älteste Chor.

Die St. Florianer Sängerknaben etwa rühmen sich, seit anno 1071 zu existieren. Nichts gegen die Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn. Der schweizerische Knabenchor wurde schon im frühen Mittelalter erstmals erwähnt – im Jahr 742. Die Wiener Sängerknaben aber sind die berühmtesten. Was auch ihren vielen Auslandstourneen zu verdanken ist.

Seit dem Jahr 1926 nahmen 2.471 Sängerknaben an 1.000 Tourneen in 97 Ländern teil. Seit Monaten sind statt Reisen aber lediglich Proben angesagt. https://www.wsk.at

Bernhard Praschl

Über Bernhard Praschl

Bernhard Praschl, geboren 1961 in Linz. Als Stahlstadtkind aufgewachsen zwischen Stadtwerkstatt und Brucknerhaus. 1978 erster Manager der Linzer Punk-Legende Willi Warma. 1979 Studium der Politikwissenschaft und Publizistik an der Uni Wien. Zivildienst im WUK; 1986 Institut für Höhere Studien, Wien. 1989-1992 in der Die Presse, seit 1992 Redakteur im KURIER, 1994 Statist in Richard Linklaters "Before Sunrise", seit 1995 in der FREIZEIT. 2013 "Das kleine ABC des Geldes. Ein Lesebuch für Arm und Reich" (Czernin Verlag). Nach frühen Interrailreisen durch Europa (Portugal bis Irland) und Autofahrten entlang der California State Route und dem Overseas Highway nach Key West jetzt wieder Bahnfahrer - und E-Biker.

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