Und wie ist es so, ganz ohne Sex zu leben?
Es gibt Menschen, die leben gut ohne Sex. Das Phänomen beobachte ich oft bei Frauen nach einer längeren Beziehung, die oft schon ab 40 mit dem Thema Sexualität mehr oder weniger abschließen, zumindest mal für längere Zeit. Einen Gedanken sollte man aber beachten: Use it, or lose it. Natürlich kann das Interesse und der Genuss an Sexualität jederzeit wieder aktiviert werden, wenn ein Mensch das will. Im Grunde ist Sexualität, wenn sie wohltuend ist, Kraftquelle in vielerlei Hinsicht. Und kann auch gesundheitsfördernd sein, weil der Kreislauf angeregt, die Immunabwehr durch Austausch von Körperflüssigkeiten angeregt, Entspannung einsetzt und der Kopf meist frei wird.
Apropos, Kopf frei… Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen eben deshalb keine Lust mehr haben, weil sie nicht mehr abschalten können, zu viel denken, Ängste haben etc.
Ja, wie bereits erwähnt: Viele Menschen wenden sich von Sex als Performance und „Konsumgut" ab. Eben auch, weil uns zu viel im Hirn herumschwirrt. Man also nicht oder nur schlecht in den Körpergenuss kommt, weil wir uns einfach oft nicht mehr spüren. Oder aber zu intensiv unsere sozialen Bedürfnisse in den leider oft oberflächlich „asozialen“ Medien befriedigen, statt persönliche Gespräche in Ruhe zu führen. Wir kommen nicht mehr im Moment an, sondern erleben in kürzesten Abständen Ablenkungen von allem - das wirkt sich natürlich auch auf die Selbstwahrnehmung, Sinnlichkeit und die Fähigkeit, sich selbst gut zu spüren, aus. Gute Sexualität erfordert ein gewisses Maß an Hingabe an den Moment.
Mag die Unlust vielleicht auch mit veränderten Rollenbildern zu tun haben?
Ja. Vor einigen Jahrzehnten gab es klare Aufgabenteilungen, also Agreements im Sinne von wer verdient und wer umsorgt das Nest. Frauen haben heute deutlich mehr Bildung, zumindest in unseren Breiten, und daher verschieben sich die „Abhängigkeiten“ deutlich. Wir haben noch wenig bewusstes Selbst-Verständnis von Sexualität, die Frauen mehr entspricht, da sind wir am Weg. Denn es geht ja nicht nur darum, dass „er“ abspritzt. Da ist noch viel im Sinne von Variantenreichtum und Sinnlichkeit, Erotik und Gleichwertigkeit möglich.
Welche Rolle spielt die aktuell fordernde Situation, im Sinne von Pandemie, Krieg, Klimawandel, Wirtschaftskrise?
Klar, auch diese grundlegenden Verunsicherungen, denen wir uns meist ohnmächtig gegenüber fühlen, drücken auf das Gemüt. Umso wichtiger wäre es im Bereich der „Eigenmacht“, also des Bereichs, in dem wir selbst gestalten können, für möglichst viel Entspannung, Freude und Wohlbefinden zu sorgen. Zu schauen, was entspannt und nährt, ist schlussendlich auch ein Gesundheitsfaktor. Ob Sex dazu gehört, entscheidet jede/r für sich.
In den Studien und Umfragen zum Thema Sex zeigte sich außerdem, dass viele Männer lieber masturbieren, statt sich ihren Partnerinnen zuzuwenden.
Ich arbeite mit einigen Männern, die Solosex als Entspannung sehen, während Sex mit der Partnerin andere Komponenten befriedigt: Intimität und Zuwendung, aber auch Zärtlichkeit, Berührung, Liebe, Verbundenheit, Nähe, Inszenierung. Wer also (dem Zeitgeist folgend) die rasche „Erleichterung“ sucht, bleibt oft bei (zu viel) Solosex hängen. Dadurch lernt ein Penis durch bestimmte Berührungen, feste Massage und bestimmter Handhabung zum Höhepunkt zu kommen. In einer Vagina ist diese intensive Führung wenig bis nicht möglich. Da braucht es ein bewusst gewähltes „neues Erlernen“ von Sexualität miteinander.
Müssen wir Sexualität, Lust und Intimität neu definieren? Im Sinne von mehr Qualität statt Quantität?
Wir müssen nicht. Aber viele von uns, zumindest Menschen, mit denen ich arbeite, sind dabei, ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse zu erforschen und zu enttabuisieren. Oder überhaupt mal anzunehmen, wie sie ticken, welche Fetische sie haben, oder eben auch gar keine da sind. Heute ist es vermutlich die größte Herausforderung und „DIE Aufgabe“, die vielen Bilder und Glaubenssätze loszulassen und sich selbst von all den Erwartungen an sich selbst aber auch aneinander herauszulösen. Um zu schauen, was ist denn da in mir ist, wenn ich zu mir komme und mich entspannt oder auch aufgeregt selbst neu erforsche, abseits von aktuellen „Normativen“. Ja, man kann das lernen, ein wichtiger Aspekt dabei ist Achtsamkeit, das Variieren von Tempo, bewusste Selbstwahrnehmung.
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