Schatz, heute nicht: Warum junge Menschen weniger Sex haben

Funkstille im Schlafzimmer: Was ist da bloß los? Weshalb auch Jüngere wenig Lust auf Sex verspüren, erklärt eine Expertin.

„Deadbedrooms“ - übersetzt „tote Schlafzimmer“ - heißt der Hashtag, unter dem auf angloamerikanischen Plattformen und sozialen Medien wie „Reddit“ darüber diskutiert wird, wie es ist, sexuell kaum oder nicht aktiv zu sein. Ein Phänomen, das nicht nur ältere Paare betrifft, sondern vor allem die Generation Y - die Millennials also, geboren zwischen 1980 und den späten 1990er-Jahren. Mehrere Studien aus den vergangenen Jahren zeigten, dass diese Menschen nicht nur später Sex hatten, sondern generell nicht viel Wert darauf legen. Vor allem, wenn sie in Langzeit-Beziehungen oder in einer Ehe leben. Doch auch die unmittelbare Nachfolgegeneration, die Gen Z, scheint mitunter ähnlich zu sein – bis hin zum Abfeiern des so genannten „Celibacy-Trends“: also ein Leben ganz ohne Sex. Warum das so ist, und was dahinter steckt, erzählt Sexualberaterin Nicole Siller im Gespräch mit der freizeit.

Man ist jung, erlebt die besten Jahre – und trotzdem bleibt die Lust auf der Strecke. Was ist da los?
Nicole Siller: Ich habe den Eindruck, dass immer mehr, eben oft auch sehr junge, Menschen in der Sexualität tendenziell mehr Druck empfinden. Sei es durch „Porno-Performances“ oder eine Art „neue Prüderie“ - also die (eigentlich gesunde) Abwendung von Sex als Konsumgut und „tabuloser" Freizeitbeschäftigung. Nichts gegen sich ausprobieren, aber das Tempo passt für viele nicht. 
Gab es solche Phänomene schon immer oder wird das durch die sozialen Medien jetzt einfach nur sichtbarer?
Das gab es tendenziell immer schon. Allerdings hat sich unser aller Leben in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches beschleunigt. Wir arbeiten mehr, länger, knallen oft die Freizeit mit tausend To-Dos zu - meist, weil das alle machen, oder wir dadurch etwas zu erzählen haben. Das Stichwort dazu heißt: Fomo (Fear of missing out). Man fühlt sich gezwungen, überall dabei zu sein. Wie soll da Lust entstehen, so etwas wie Freiräume oder die Idee „Gelegenheit macht Liebe“? Außerdem ist es ein Mythos, dass die meisten Menschen regelmäßig gute Sexualität miteinander leben, ob in Beziehungen oder als Single. Aber den wollen wir oft.
Mythos – gutes Stichwort. Ab wann kann man denn überhaupt davon sprechen, dass es zu wenig Sex ist? Sind unsere Bilder dazu falsch? Was ist schon „normal“?
Da hängen wir alle oft zu sehr an Normativen, die uns suggeriert wurden. Manche haben mehrfach die Woche Sex, andere sind glücklich mit einmal im Monat oder noch weniger. Es ist normal, Phasen von wenig bis gar keinen Sex zu haben. Es ist normal, immer wieder Phasen mit mehr oder weniger Sex zu genießen. Das ist für viele unterschiedlich. Es ist dann zu wenig Sex, wenn innerhalb einer Beziehung einer mehr will, als der/die andere.
Und wie ist es so, ganz ohne Sex zu leben?
Es gibt Menschen, die leben gut ohne Sex. Das Phänomen beobachte ich oft bei Frauen nach einer längeren Beziehung, die oft schon ab 40 mit dem Thema Sexualität mehr oder weniger abschließen, zumindest mal für längere Zeit. Einen Gedanken sollte man aber beachten: Use it, or lose it.  Natürlich kann das Interesse und der Genuss an Sexualität jederzeit wieder aktiviert werden, wenn ein Mensch das will. Im Grunde ist Sexualität, wenn sie wohltuend ist, Kraftquelle in vielerlei Hinsicht. Und kann auch gesundheitsfördernd sein, weil der Kreislauf angeregt, die Immunabwehr durch Austausch von Körperflüssigkeiten angeregt, Entspannung einsetzt und der Kopf meist frei wird.

Nicole Siller

©Mirjam Reither
Apropos, Kopf frei… Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen eben deshalb keine Lust mehr haben, weil sie nicht mehr abschalten können, zu viel denken, Ängste haben etc.
Ja, wie bereits erwähnt: Viele Menschen wenden sich von Sex als Performance und „Konsumgut" ab. Eben auch, weil uns zu viel im Hirn herumschwirrt. Man also nicht oder nur schlecht in den Körpergenuss kommt, weil wir uns einfach oft nicht mehr spüren. Oder aber zu intensiv unsere sozialen Bedürfnisse in den leider oft oberflächlich „asozialen“ Medien befriedigen, statt persönliche Gespräche in Ruhe zu führen. Wir kommen nicht mehr im Moment an, sondern erleben in kürzesten Abständen Ablenkungen von allem - das wirkt sich natürlich auch auf die Selbstwahrnehmung, Sinnlichkeit und die Fähigkeit, sich selbst gut zu spüren, aus. Gute Sexualität erfordert ein gewisses Maß an Hingabe an den Moment.
Mag die Unlust vielleicht auch mit veränderten Rollenbildern zu tun haben?
Ja. Vor einigen Jahrzehnten gab es klare Aufgabenteilungen, also Agreements im Sinne von wer verdient und wer umsorgt das Nest. Frauen haben heute deutlich mehr Bildung, zumindest in unseren Breiten, und daher verschieben sich die „Abhängigkeiten“ deutlich. Wir haben noch wenig bewusstes Selbst-Verständnis von Sexualität, die Frauen mehr entspricht, da sind wir am Weg. Denn es geht ja nicht nur darum, dass „er“ abspritzt. Da ist noch viel im Sinne von Variantenreichtum und Sinnlichkeit, Erotik und Gleichwertigkeit möglich.
Welche Rolle spielt die aktuell fordernde Situation, im Sinne von Pandemie, Krieg, Klimawandel, Wirtschaftskrise?
Klar, auch diese grundlegenden Verunsicherungen, denen wir uns meist ohnmächtig gegenüber fühlen, drücken auf das Gemüt. Umso wichtiger wäre es im Bereich der „Eigenmacht“, also des Bereichs, in dem wir selbst gestalten können, für möglichst viel Entspannung, Freude und Wohlbefinden zu sorgen. Zu schauen, was entspannt und nährt, ist schlussendlich auch ein Gesundheitsfaktor. Ob Sex dazu gehört, entscheidet jede/r für sich.
In den Studien und Umfragen zum Thema Sex zeigte sich außerdem, dass viele Männer lieber masturbieren, statt sich ihren Partnerinnen zuzuwenden.
Ich arbeite mit einigen Männern, die Solosex als Entspannung sehen, während Sex mit der Partnerin andere Komponenten befriedigt: Intimität und Zuwendung, aber auch Zärtlichkeit, Berührung, Liebe, Verbundenheit, Nähe, Inszenierung. Wer also (dem Zeitgeist folgend) die rasche „Erleichterung“ sucht, bleibt oft bei (zu viel) Solosex hängen. Dadurch lernt ein Penis durch bestimmte Berührungen, feste Massage und bestimmter Handhabung zum Höhepunkt zu kommen. In einer Vagina ist diese intensive Führung wenig bis nicht möglich. Da braucht es ein bewusst gewähltes „neues Erlernen“ von Sexualität miteinander.
Müssen wir Sexualität, Lust und Intimität neu definieren? Im Sinne von mehr Qualität statt Quantität?
Wir müssen nicht. Aber viele von uns, zumindest Menschen, mit denen ich arbeite, sind dabei, ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse zu erforschen und zu enttabuisieren. Oder überhaupt mal anzunehmen, wie sie ticken, welche Fetische sie haben, oder eben auch gar keine da sind. Heute ist es vermutlich die größte Herausforderung und „DIE Aufgabe“, die vielen Bilder und Glaubenssätze loszulassen und sich selbst von all den Erwartungen an sich selbst aber auch aneinander herauszulösen. Um zu schauen, was ist denn da in mir ist, wenn ich zu mir komme und mich entspannt oder auch aufgeregt selbst neu erforsche, abseits von aktuellen „Normativen“. Ja, man kann das lernen, ein wichtiger Aspekt dabei ist Achtsamkeit, das Variieren von Tempo, bewusste Selbstwahrnehmung. 
Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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