Diabolisch im TV: Die besten bösen Helden
Die neuen Serienstars sind das Gegenteil des guten Ritters in glänzender Rüstung: Sie stehlen, quälen und morden. Und trotzdem liebt das Publikum sie. Was fasziniert uns so an Dexter, Barry & Co.?
Von klein auf lernen wir, zu den Guten zu halten. Sei es in den Märchen der Gebrüder Grimm, den Geschichten von der Biene Maja, Disneyfilmen oder, später dann, jugendgerechten Hollywood-Klassikern. Ist irgendwie auch im eigenen Interesse, denn: Am Ende siegt immer das Gute. Das haben wir in jahrelanger Sozialisation verinnerlicht. Eigentlich.
Jetzt ist es aber so, dass seit einiger Zeit anscheinend die Bösen die Guten sind. Oder zumindest die Helden. Wer sich heute durch die Streaminganbieter binged, wird unwillkürlich unter und hinter der Couch nach potenziellen wahnsinnigen oder genialen Killern suchen und dann ganz schnell die Türkette am Eingang vorlegen. Denn sie sind unter uns. Überall.
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Dabei kommen sie in allen möglichen Verkleidungen. Als neurotischer Bücher-Nerd etwa aktuell in „You“, so etwas wie der Filmversion des in Wahrheit echt gruseligen Police-Schmachtfetzens „I’ll Be Watching You“.
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Die Gesichter des Bösen
Der Kerl – nicht besonders schön, nicht schiach, nicht stark oder sonst irgendwie augenscheinlich gefährlich – beginnt eine junge Frau zu stalken, von der er besessen ist. Weil sie sich wie er für Bücher interessiert – und gut aussieht. Ihr Pech: Sie ist lebensfroh, freundlich und ein bisschen gutgläubig. Der Mann ist besessen von ihr, überwacht sie Tag und Nacht, stiehlt ihr nach und nach ihre Freunde, ihr gewohntes Umfeld, ihr Leben – und zieht sie in seine kranke Welt. Leichen pflastern auf dieser Mission seinen Weg, dass es für die junge Heldin selbst auch nicht gut ausgeht, kann man – ohne zu spoilern – daraus schließen, dass er mittlerweile in zwei weiteren Staffeln einige neue Objekte der Begierde gefunden hat.
Der Serienmörder als Serienheld? Genau das liegt in der menschlichen Natur, wie die Psychologen Rebecca Krause und Derek Rucker von der Northwestern University in Chicago, die aus gegebenem Anlass eben dazu vor drei Jahren eine Studie durchführten, festgestellt haben. Denn es ist anscheinend tatsächlich so, dass wir ein Faible für schlimme Buben und Mädchen haben, die sich nicht so verhalten, wie das die gesellschaftliche Norm erwartet.
„Can Bad be Good?“, heißt die Publikation der beiden Wissenschaftler, mit dem Untertitel: „The Attraction of a Darker Self“, also die Anziehungskraft eines dunkleren, böseren Selbst, das wir auf der Leinwand oder dem Bildschirm sehen. Denn ihre Studie ergab, dass ganz normale Studenten und Angestellte, die in ihrem Leben wahrscheinlich nicht einmal etwas an einem Souvenirstand mitgehen lassen, MANCHE Bösewichte durchaus attraktiv finden.
Und ist es nicht tatsächlich so, dass sich auch die alten Kinohelden – James Dean, Marlon Brando, Clint Eastwood – über Gesetze und Normen hinweggesetzt haben? Sie mussten nicht, wie die Zuschauer, nach den Regeln spielen, ließen sich keine Anweisungen geben.
Mord ist ihr Hobby
Und hat eben das nicht auch schon die Attraktivität großer Hollywood-Bösewichte wie Richard Widmark, Lee Marvin oder Robert Mitchum ausgemacht? Nur dass sie eben am Ende immer für ihre bösen Taten büßen mussten, keine Übeltat wurde damals vergeben, da half nicht einmal aktive Reue etwas. Während man heute, vorausgesetzt, man belästigt niemanden mit moralischen Bedenken oder Schuldgefühlen, eine zweite, dritte und vierte Staffel für seine Schurkereien, und ja, sogar Morde, bekommt.
Oder eine zehnte, wie der geniale, immer coole und absolut skrupellose Bösewicht Raymond „Red“ Reddington (James Spader) in der Erfolgsserie „The Blacklist“. Die völlig durchgeknallte und ziemlich angesagte Auftragskillerin Villanelle (Jodie Comer) hat es mit ihrer Serie „Killing Eve“ mittlerweile auch schon auf vier Staffeln gebracht, wobei erstaunlicherweise die letzte, in der sie ihr Handeln zu hinterfragen beginnt, die schwächste und am wenigsten gestreamte ist.
Die großartige Ruth Wilson blieb dem Charakter der so völlig gewissenlosen wie genialen und eleganten Mörderin Alice Morgan in der sehenswerten BBC-Produktion „Luther“ bis zum bitteren Ende treu. Der arme „Barry“ steht in der gleichnamigen Serie zwar unter Druck von außen, macht seine fiesen Sachen aber blöderweise unglaublich gut.
Und „Dexter“? Mit dem psychopathischen Forensiker wurde ein spannendes Gegenstück zu den supercleanen Kollegen aus „CSI: Miami“ aufgebaut, das es auf sagenhafte 106 Folgen brachte. Wobei der hochneurotische Antiheld in praktisch jeder einen Mord beging.
Völlig unterschiedliche Charaktere, wie wir sehen, cool, mondän, psychopathisch – bis infantil-anarchisch und dabei doch akribisch genau, was keinen Widerspruch darstellen muss, wenn man sich kurz an die Lehrervernichtungsmaschinen, die man selbst als Kind gezeichnet hat, erinnert. Und auch dafür haben die Psychologen Krause und Rucker in ihrer Studie eine Erklärung gefunden: Man sucht sich den Verbrecher als Liebling aus, mit dessen psychischer Disposition man selbst am ehesten übereinstimmt.
Na denn, welches Schweinderl hätten Sie denn gerne?
Ganz so neu ist der böse Held übrigens gar nicht. Patricia Highsmith erfand 1955 die Blaupause für den amoralischen Leinwandstar: Den „talentierten Mister Ripley“. „Ich zeige den unzweideutigen Triumph des Bösen über das Gute, und ich freue mich daran“, gestand sie später. Und: „Ich habe eine klammheimliche Sympathie für Missetäter.“
Es war wohl schon immer da, ganz tief in uns. Nur heute lassen wir es auch raus.
Nein, um Gottes Willen, nicht raus, sondern rein natürlich, über Filme und Serien! Weil wir’s dann eben nicht rauslassen müssen ...
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