Rausch der Verwandlung: Warum Period Dramas boomen
Große Gefühle, spektakuläre Roben zwischen Rokoko, Barock und Biedermeier – Kostümfilme sind angesagt. Mitte Mai bringen sie sogar Johnny Depp als französischen König zurück ins Kino. Ein Überblick.
Es raschelt, rauscht und wogt, wohin man sieht. Prächtige Panier-Kleider mit tollkühnen Dekolletés, zarte Spitzentücher, die wie unabsichtlich zu Boden flattern und mit einer eleganten Bewegung als Liebespfand im reich bestickten Ärmel eines Kavaliers landen. Alles ist Andeutung und Versteckspiel, eine hochgezogene Augenbraue kann Karrieren zerstören, flüchtige Blicke sind Träger für Amors Pfeil oder vergiftete Dolche, wer weiß das schon, diese üppig parfümierte Welt besteht aus angedeuteten Lächeln, formvollendeten Verbeugungen und grazilen Knicksen.
„Die“ du Barry ist einer der klingendsten Namen aus dieser Zeit, die Geschichte einer stadtbekannten Hure, die zur mächtigsten Frau Frankreichs aufsteigt, ist auch beinahe zu prickelnd, um wahr zu sein. Was sie noch prickelnder macht: Sie ist es.
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Bei den Filmfestspielen in Cannes wird das Leben der Marie-Jeanne Bécu, wie sie ursprünglich hieß sie war wohl die Tochter eines nicht wirklich tugendlichen Franziskanermönchs , dementsprechend ein echter Höhepunkt werden. Natürlich auch wegen der Besetzung: Johnny Depp gibt den ältlichen König Ludwig XV., die französischen Filmlegenden Pierre Richard und Pascal Greggory sind mit von der Partie, die charismatische Maïwenn spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern führt auch Regie, der Stoff ist für sie eine echte Herzensangelegenheit.
Und man darf zuversichtlich sein, dass der Film der mehrfach preisgekrönten Regisseurin und Schauspielerin – unter anderem auch in Cannes – hält, was er verspricht. Vor allem auch, was sich die immer zahlreicheren Fans der sogenannten „Period Dramas“ davon versprechen.
Schöne alte Welt
Zur Erklärung: „Period Dramas“ sind praktisch alle Filme, die uns in eine mehr oder weniger authentische Vergangenheit zurückholen. Das ist breit gefächert, wir können Mrs. Maisels New York der späten 1950er ebenso besuchen wie das antike „Rom“ der Legionäre Lucius Vorenus und Titus Pullo.
Nachdem die 10er-Jahre nun mit „Game of Thrones“, den „Vikings“ und allen möglichen „Kingdoms“ fest im Zeichen des Mittelalters standen, stecken die 20er fest im Fischbeinkorsett der Viktorianischen Ära, des Regency, Rokoko und Biedermeier.
Das wirft doch eine nicht ganz unberechtigte Frage auf: Warum um alles in der Welt sehnen wir uns nach einer Zeit zurück, in der praktisch alles verboten war, was für uns heute so selbstverständlich ist, uns quasi in den Fingerspitzen steckt?
Während heute potenzielle Intimkontaktkandidaten genervt mit einem Finger weggewischt oder aktiviert werden, sehen wir auf der Leinwand und auf den TV-Schirmen gebannt dabei zu, wie Liebesbriefe an wogende Busen gehalten werden, ein spitzenbesetztes Taschentuch als Objekt der Begierde ausreicht und Fantasien langsam und immer nur andeutungsweise, von einer Feder auf raues Papier gekratzt, in schnörkeliger Schrift Gestalt annehmen.
Die Magie der MiederDazu ist natürlich auch die gesamte Damenmode mit all ihren Reifröcken, Verdugados, spitzenbesetzten Chemisen, eng geschnürten Miedern, Manteaus, Krinolinen, Tournüren, den so derb als „Weiberspeck“ bezeichneten wurstartigen Rollen, die um die Hüften getragen wurden, oder den ausladenden „Pariser Hintern“, also den durch Raffung und unsichtbar getragenen Holz- und Stahlgestellen erzeugten „Cul de Paris“, nicht gerade das, was man heute als „Empowering“ versteht. Im Gegenteil, praktisch alle modischen Finessen dieser Zeit zielten auch darauf ab, Frauen daran zu hindern, zu laufen, springen oder sich sonst in irgendeiner Weise so frei zu bewegen, wie Männer es konnten und als gottgegeben für sich beanspruchten.
Schmachten war praktisch alles, was den Damen dieser Periode blieb, Intrigieren natürlich auch, das sind dann die Protagonistinnen, die wie Mylady Winter in der aktuell 139. Wiederverfilmung von Alexandre Dumas’ „Drei Musketieren“ für Pfeffer in der Suppe sorgten. Aber: Wie sonst hätte sich eine Frau in dieser Zeit behaupten können, wenn sie nicht mit einem rechtschaffenen und grundgütigen Helden an ihrer Seite gesegnet war – oder sich einfach nicht mit einer Rolle als hübsche Anziehpuppe zufrieden geben wollte?
Psychologieprofessor David Sbarra hat mit seinen Studenten an der Universität von Arizona zu dem Thema geforscht und ortet die aktuelle Faszination für „Period Dramas“ genau in dieser größtmöglichen Distanz zu unserer modernen Welt. Im Gegensatz zu unserem Verständnis von Liebe, die offen und ohne Geheimnisse zu sein habe und auf einer Idee von Seelenverwandtschaft fuße, setzen die derzeit so beliebten Serien und Filme auf Distanz, praktisch unterschiedliche Welten, in denen die Heldinnen und Helden leben. Das erzeuge ein Mysterium, das uns auch oder vielleicht gerade heute zu fesseln vermag.
Und daran scheint sich auch in absehbarer Zeit nichts zu ändern. Der große Kostüm-Reigen, der mit der Netflix-Serie Bridgerton begann, dreht sich munter weiter. Bridgerton selbst feiert sich gerade mit einem Ableger aus dem eigenen Universum, die durchaus empfehlenwerte italienische Serie "Lidia Poet" thematisiert auf unterhaltsame Weise die zuvor angesprochenen Restriktionen, denen Frauen noch im 19. Jahrhundert ausgesetzt waren. Der legendäre Sir Ridley Scott dreht gerade mit Joaquin Phoenix einen Film über Napoleon, der diesen Herbst in die Kinos kommen soll. „Firebrand“ bringt uns barocke Pracht und Jude Law als König Heinrich VIII., „Chevalier“ beschreibt das ungewöhnliche Leben des afrikanischstämmigen Komponisten Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges.
"Nell Gwynn“ schließlich führt uns an den Hof des lebensfrohen Charles II. von England. Die Rolle der Nell, also der Mätresse des Monarchen, übernimmt Shooting-Star Emma Mackey, die durch die Netflix-Serie „Sex Education“ bekannt wurde, in der sie noch den Prototyp eines Girls der Wisch-und-weg-Generation gespielt hat.
Seither glänzte sie in „Eiffel“, „Tod auf dem Nil“ und vor allem in „Emily“ gleich in drei Period-Dramen. Zu den Zwängen, mit denen sie als Dichterin Emily Brontë im Viktorianischen Zeitalter zu kämpfen hatte, sagte sie in einem Interview: „Genau darum geht’s. Um die Herausforderung.“
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