Diese zwei Entwicklungen prägen die Musik der Neunziger

Die Stars der Achtziger geben noch Gas, zusammengecastete Truppen lassen die Kassen klingeln. Genres aus der Nische werden massentauglich. Und zwei Gegenpole dominieren.

"Das war noch Musik", schreiben  viele Menschen nostalgisch auf YouTube unter Clips aus den Neunzigern. Selbst unter Stücke, die damals als Trash galten. So ein Blick zurück macht auch milde.  Aber was macht sie aus – die Klänge  aus den 90ern, die doch so unterschiedlich waren? Was ist so besonders an ihnen, dass sie  „noch Musik“ waren? „In den Neunzigern gibt es  konträre Entwicklungen.  Grunge bringt das zurück, was in den 1980ern passé war – die ‚handgemachte‘ Musik“, sagt Ralf von Appen, Professor für Theorie und Geschichte der Popularmusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Der  Proberaum wird wiederentdeckt, Livekonzerte boomen. „Es regiert wieder die E-Gitarre und nicht der Drumcomputer, Sequenzer und Synthesizer.  Die Schlagzeuger hatten in den 1980ern schon  Angst um ihre Jobs.“

Comeback der Singer-Songwriter 

Auf einmal sind auch  die Singer-Songwriter der 1960er wieder gefragt. Bob Dylan, etwa. Unplugged ist Anfang der Neunziger eines der großen Schlagwörter. Nirvanas MTV-Auftritt in New York ist bis heute legendär. Wer kennt die Aufnahmen nicht? Kurt Cobain, der kurz vor seinem Tod ohne den fetten Klang einer E-Gitarre, dafür mit  dickem Cardigan herz- und stimmbandzerreißende Töne von sich gibt. Eric Clapton  liefert mit seinem Unplugged-Album   seine erfolgreichste Platte ab. „Dieses Back-to-the-Roots steht den vermeintlich ‚künstlichen‘ Strömungen ohne Authentizität gegenüber – man denke an die Boybands, an Britney Spears“, sagt von Appen. „Auch eine Ethno-Welle etwa mit dem Buena Vista Social Club lässt sich so erklären.“ 

 

Gecastet wird  in dem Jahrzehnt, dass es eine Freude ist – oder auch nicht, je nachdem, wie alt man ist. Eurodance-Duos  entstehen nach Schema F: Hübsche Sängerin und Rapper, der auch noch tanzen kann. In einer Boyband muss für jeden Mädchengeschmack ein Bursche dabei sein – ein Sunnyboy, ein guter Freund, ein Rebell. Bei Take That ist Robbie Williams alles in einem. Als er sich  lossagt, um ein Bad Boy zu werden, der später zu einem Schmusesänger mutiert, richtet die Zeitschrift Bravo eine Telefonhotline für verzweifelte Mädchen ein. Die Spice Girls impfen ihnen mit dem Schlachtruf „Girl Power“ neue Kraft ein.

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Und dann sind da noch jene, die schon  reich und berühmt sind. „Das Jahrzehnt, das am stärksten auf Stars gesetzt hat, waren für mich die 1980er. Nach einer Umsatz-Krise Ende der 1970er-Jahre entschieden die Major-Label, ihre Promo-Bemühungen auf wenige einzelne Stars zu beschränken, statt wie zuvor in die Breite zu gehen: Dementsprechend wurden sehr teure Videos für wenige gedreht, die dann für enorme Umsätze gesorgt haben: Madonna, Prince, Michael Jackson, Bruce Springsteen zum Beispiel“, sagt der Experte. Das setzt sich in den Neunzigern fort.  Musikfernsehen wird immer wichtiger.

 

Michael Jackson bricht 1995 mit dem Clip zu Scream den Rekord für das bis heute teuerste jemals produzierte Musikvideo. Sieben Millionen Dollar kostet das Video, in dem er mit Schwester Janet in einem Raumschiff singt und herumspringt. Jackson legte dazu mit Dangerous eines der erfolgreichsten Alben der Musikgeschichte hin.

In seiner HIStory-Tour inszeniert er sich ab 1996 mit Fantasie-Uniformen und ihn begleitender Friedensarmee. Um die Konzerte zu bewerben, werden neun Meter hohe Statuen des King of Pop aufgestellt.  Es wird die erfolgreichste Tour aller Zeiten. Nur in den USA  spielt er wohl wegen der Missbrauchsvorwürfe, die immer wieder aufs Tapet kommen, bloß ein Konzert – und zwar auf Hawaii. 

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Während Jacksons Stern in den Neunzigern anfängt unterzugehen, strahlt der von Madonna wie eh und je. Sie wird damit noch viel cooler, als sie ohnehin schon ist. Ihr Ray-of-Light-Album aus 1998 ist voll von unterschiedlichen Einflüssen der elektronischen Tanzmusik, die Jahre zuvor  die Klang- und Clubwelt revolutioniert hat.

Neben House und Techno ist es auch der Hip Hop, der  anfänglich aus dem Untergrund kommt und wirklich massentauglich wird. Mit Rap lässt sich eine Menge Geld verdienen – 2Pac oder Notorious B.I.G. machen das und zeigen es auch. Dass sie dabei ihre Gangster-Vergangenheit dennoch nicht ablegen können, endet für sie tödlich.

Metal, Country und Schlager

Mit Metal kommt ein weiteres Genre aus der Nische. Metallica und die Guns N’ Roses stimmen die Gitarren tiefer und setzen auf dreckigen Rock. Oder wie es der Spiegel einmal schrieb: „Langhaarige weiße Männer, die noch einmal Rock machen wollten. Musik, die einfach war, die weiß war, die nichts mit all dem Kram zu tun hatte, der den Pop der Achtzigerjahre“ geprägt hatte: Das „Spielen mit Geschlechteridentitäten, die Übergänge von Schwarz und Weiß“. 

Dass die Musikindustrie Metal entdeckt, hat auch mit der Umstellung bei den Musikcharts zu tun, wie von Appen erklärt: „In den Neunzigern wurde auf eine objektivere Barcode-Zählung umgestellt. Zuvor hatte man bloß in ein paar Plattenläden angerufen und nach diesen Angaben die Hitparaden erstellt.“ Dabei kommt heraus: Menschen mögen Metal und Country. Der Schlager blüht deswegen ebenfalls wieder auf.

Auch wenn die Neunziger heute  von Mode bis Medien stark da sind, in der Musik sieht von Appen kein spezielles Revival, sondern viele Revivals gleichzeitig.  „Die Streaming-Dienste und YouTube bieten uns Zugriff auf das gesamte Archiv, und dementsprechend wird es in verschiedene Richtungen ,geplündert’.“  

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember 2020 über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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