Judith Holofernes: „Vielleicht war ich immer zu pflegeleicht“
Aus ihrem Buch „Die Träume anderer Leute“ liest sie heute auf der Buch Wien 2022 vor. Der "freizeit" gab sie vorab ein Interview.
Vor 20 Jahren gelang einer jungen Band ein seltenes Kunststück: Sie eroberte die Herzen ALLER Musikfans. Indie und Mainstream, Pop, Rock – egal, „Wir sind Helden“ musste man ganz einfach lieben. Ihre „Reklamation“ - Guten Tag, ich will mein Leben zurück - war so erfrischend naiv wie auch klug, wortgewandt, witzig, wie praktisch alle Songs ihres phänomenalen Debüt-Albums.
Jetzt hat Frontfrau Judith Holofernes ein Buch herausgebracht und man ist weniger erstaunt, dass sie es getan hat als dass sie es erst jetzt getan hat, war sie doch schon immer für die genialen Texte der Band zuständig. Ist ihr erstes Buch also der Auftakt für eine zweite, eine literarische Karriere oder war es ein autobiografischer Überdruck, der einfach raus musste und damit war's das?
„Ich möchte auf jeden Fall weiterschreiben. Ich war ein Lese-Mensch, sobald ich ein Buch halten konnte“, sagt sie mit dieser unverwechselbaren Stimme und dieser Ernsthaftigkeit, die genau so klingt wie in ihren Songs. Also, darf man sich auf große Romane von ihr freuen? Storys hat sie ja schon immer erzählt: Die Liebenden, die sich nicht institutionalisieren lassen wollen, das Kind mit den großen Augen und der Unmenge an Zeit, das leider lernt, ein Erwachsener zu werden ...
„Ob ich mich gleich auf echte Long-Fiction einlasse, weiß ich nicht. Aber generell eine menschliche Entwicklung zu erzählen, das liebe ich. Es hat auch etwas Tröstliches, beim Lesen wie beim Schreiben, finde ich. Also so einen memoiristischen Stil wie etwa Mary Karr in Club der Lügner oder Daniel Schreiber in Allein.“ Erinnerungen an die Zeit unter Ford von John Updike vielleicht? „Witzig, dass du das sagst, ich hab’s noch nicht gelesen, aber es steht ganz oben auf meiner Bücherliste!“
In ihrem Buch beschreibt Judith Holofernes die späten Jahre mit den Helden, wie schwierig es auch heute noch ist, Kinder und Konzertreisen unter einen Hut zu bekommen. Das mehr als melancholische Ende natürlich, und ihren Neuanfang als Solokünstlerin. Aber wie war der Anfang ihrer Karriere, wann wusste sie: Wir haben's wirklich geschafft? „Recht früh eigentlich“, erklärt sie überraschenderweise.
„Bei einem Konzert in München, so vor gut 20 Jahren. Es war brechend voll im Club, und als ich meinte, wer den Text von Guten Tag kenne, der soll auf die Bühne und mitsingen. Da waren dann plötzlich 200 Menschen auf der Bühne und der Veranstalter war sauer, weil da echt was passieren hätte können, aber wir hatten ja überhaupt nicht mit so einer Reaktion gerechnet – da dachte ich mir: Wow, es passiert wirklich!“ Eine Berliner Band schafft ausgerechnet in München den Durchbruch? „Das Ding mit München war halt, dass sie dort FM4 hören. So waren wir dank FM4 in Bayern und Österreich Stars, bevor uns sonst wirklich wer kannte.“
Dann gab es für die Helden kein halten mehr. Schon das Debüt-Album schoss bis auf Platz zwei in den deutschen Charts. Mit „Von hier an blind“, „Soundso“ und „Bring mich nach Hause“ folgten drei weitere, die in Österreich und Deutschland jeweils wochenlang auf den Plätzen eins und zwei lagen. Konzerte vor 100.000 Zuschauern, bei der Demo gegen AKWs in Berlin sogar 120.000, ließen Judith und die drei Jungs der Band zu echten Helden werden. „Es gab in diesen Jahren schon immer wieder Momente, bei denen man sich kneifen muss“, erinnert sie sich heute.
Judith Holofernes gibt in ihrem Buch auch freimütig zu, dass sie schon als Kind ein Rockstar werden wollte. „Ist das ungewöhnlich?“, fragt sie erstaunt. Wahrscheinlich nicht, nur erklären die meisten ihrer Rockstar-Kollegen gerne, dass ihnen die Sache mit dem Star einfach so passiert sei, weil es ihnen ja eigentlich nur um die Musik ging. Aber das Eine schließt ja das Andere nicht aus. „Woran man sich auch erst gewöhnen muss, dass man ja dann auch mal seinen eigenen Idolen über den Weg läuft. Und die einen dann nicht als Fan, sondern als Kollegin sehen. Bei Elvis Costello war mir das dann plötzlich zu viel, er ist ja einer meiner ganz großen musikalischen Helden. Ich war nach dem Konzert backstage – aber als Elvis Costello mich ansah, hab ich mich schnell weggeduckt. Ich hatte einfach zu große Angst davor, ihn anzusprechen.“
1976 als Judith Holfelder von der Tann in Berlin geboren. Nach dem Ende ihrer Band brachte sie mit „Ein leichtes Schwert“ und „Ich bin das Chaos“ zwei Solo-CDs heraus. Derzeit arbeitet sie als crowd-basierte Künstlerin auf der Plattform „Patreon“.
Mit ihrem Mann Pola Roy, dem Drummer der „Helden“, hat sie zwei Kinder.
Am liebsten wäre Judith Holofernes, wie sie selbst sagt, einfach einer von den Jungs in der Band gewesen. „Aber das hat auf Dauer nicht geklappt. Obwohl wir uns anfangs ganz bewusst so fotografieren ließen, dass ich weiter hinten stand.“ Es war schließlich unvermeidlich, dass sie mehr Medienpräsenz abbekam, Interviews gab, weil es schließlich auch um ihre Texte ging. „In einer Band sind eben nicht alle gleich. Auch wenn man das gern so hätte.“
Wie sehr lebt man als Popstar dann eigentlich „die Träume anderer Leute“? „Die Träume der Fans sind nicht das Problem, also ob man denen jetzt entspricht oder nicht, die sehen einen höchstens in einem zu guten Licht. Es sind die Träume der Industrie, die einen auslaugen. Verkaufszahlen, Optimierung, Profit – da wird’s gefährlich.“ Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Ich war vielleicht immer zu pflegeleicht. Das nette freundliche, fleißige Mädchen. Denn nett sein, gefallen wollen – das wird Frauen auch heute noch als Grundausstattung mitgegeben.“ Die Filme ihrer Kindheit, Indiana Jones & Co., in denen Frauen eben hübsch und gut zu sein hatten, um gerettet zu werden, während die bösen Weiber ihre gerechte Strafe erhielten, prägten dieses Bild ebenso wie die Sozialisation in Kindergarten und Volksschule.
Andere, stärkere Role-Models? „Wenn ich mir angucke, was heute angeboten wird, hab ich Hoffnung.“ Dabei meint Judith Holofernes keinesfalls an den Haaren herbeigezogene kämpfende Barbarinnen. „Sex Education ist so eine Serie, wo ich mir denke: Ja, das passt, hier gibt's Frauen, mit denen ich mich identifizieren kann und will. Und Kids jeder Orientierung, die das super rüberbringen. Oder Kate Winslet. Wie sie drauf besteht, auch auf Promo-Fotos so auszusehen, wie man als Frau Mitte 40 eben aussieht. Und wie sie in Mare of Easttown die Polizistin spielt, nicht als supertoughe, unbesiegbare Heldin, sondern als Frau, mit allen Problemen und Vorzügen, die's eben so gibt, das ist schon großartig. Und geht in eine Richtung, die Mut macht.“
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