Wie Graffiti auch in Wien zur Kunst wurde

Wie das illegale Sprayen sich trotz Millionenschäden als Kunstform etablierte und was Helmut Zilk damit zu tun hatte: Der Autor eines neuen Buches beleuchtet die Historie und die aktuelle Szene.

Sie agieren bevorzugt im Dunkeln, unter Pseudonym, ihre Kunst ist meistens illegal und so gut wie immer vergänglich: Auf Hausfassaden, Wänden, Pfeilern, Zügen und was sich sonst noch als verlockend zu verzierende Fläche darstellt, sprayen die Straßenkünstler ihre Graffiti in den urbanen Raum. Auch in Wien. Der Kunsthistoriker Stefan Wogrin, der das Online-Archiv spraycity.at betreibt, und Maike Hettinger haben nun die Historie der Sprühkunst in der Bundeshauptstadt erstmals erforscht. „Graffiti Wien #1 (1984–1999)“ heißt ihr Buch – und ist die bislang umfangreichste Publikation zum Thema.

Werk von Maze, Keramik und Noize an der Nordbrücke Wien, 1997

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Vorbild New York

„Die Initialzündung für Graffiti in Wien passierte 1984“, erklärt Wogrin. Der coole Künstlerflair New Yorks wurde damals ins beschauliche Österreich importiert, als die Galeristin Grita Insam sogenannte Writer aus dem Big Apple einlud. Die bunt bemalten Subway-Waggons hatten dort ihre Aufmerksamkeit erregt. Hierzulande durften sie die legendäre Disco U4 und den J-Wagen besprühen – ganz offiziell und der Kunst wegen erlaubt. Auch „Wild Style“, ein halbdokumentarischer Spielfilm, übte in der Anfangszeit großen Einfluss aus. Wie die Öffi-Aktion brachte er dem jungen Publikum die Kultur von Hip-Hop, DJing und Breakdance nahe. Manche, wie der Sprayer Setaroc, gingen tags darauf sofort begeistert los, um Sprühdosen zu kaufen.

Autoren-Duo: Stefan Wogrin und Maike Hettinger

©Spraycity Verlag

Es wurde aber auch politisch. Etwa bei der Besetzung der Arena in den Siebzigerjahren, dann waren in den Achtzigern Hainburg, Verteidigungsminister Frischenschlager oder Abfangjäger ein Spray-Thema. Nachdem ein Denkmal mit „Da Zilk wors“ besprüht wurde, schritt der Wiener Bürgermeister ein. Erst kam es zu Verhaftungen, später plädierte Zilk für Milde. 1994, im Jahr als Polizeipräsident Günther Bögl die Zerschlagung der Graffiti-Szene verkündete, installierte der Bürgermeister mit der „Wienerwand“ am Donaukanal sogar eine legale Graffiti-Fläche. 

„Zilk erkannte, dass es Plätze braucht, an denen die Jugend sich ausdrücken kann“, so Buchautor Wogrin. Eine Maßnahme, die dem offenbar menschlichen Bedürfnis nachkommt, Beweise seiner Existenz im öffentlichen Raum zu hinterlassen. So stammt das älteste Namensgraffiti aus dem Großraum Wien aus dem 4. Jh. n. Chr., ist aus Bruckneudorf und heute im Landesmuseum Burgenland ausgestellt. Und der Hofkammerbeamte Joseph Kyselak wurde zur Legende, indem er seinen Namen auf Burgen und Schlössern einritzte – ein Urahn des Graffitis, bei dem es wichtig ist, seinen „Tag“, also seinen Szenenamen, zu hinterlassen.

Millionenschäden

Graffiti zeigen sich in Wien meist nicht als Street Art in Form kunstvoll gesprayter Wandbildnisse, sondern als Writing – also kreativ gestaltete Sprayer-Pseudonyme. „Street Art möchte als Kunst wahrgenommen werden“, so Wogrin, „bei Graffiti ist das nicht zwangsläufig der Fall.“ Die Akteure wären dennoch oft dieselben. „Graffiti allerdings bezieht Position und möchte den öffentlichen Raum mitgestalten.“

Sprayer bei der Arbeit, 1993

Und genau das sorgt für Unmut, etwa bei den ÖBB. Auf 3,1 Millionen Euro beliefen sich 2023 die verursachten Schäden, insgesamt wurde eine Fläche von 51.000 Quadratmetern verunreinigt. Die Hotspots sind die Ostregion inklusive Wiener Neustadt und Retz sowie Linz. Und Wiener Wohnen beklagt Kosten von 80.000 Euro pro Jahr aufgrund von Beschmierungen (vorrangig durch die Entfernung herabwürdigender Äußerungen).

Puber und die Folgen

Vor zehn Jahren wurde der Schweizer Puber verhaftet, der mit seinem Schriftzug halb Wien markierte. Das Werk des Sprayers kam zwar auch zu Galerie-Ehren, wurde urban jedoch wenig goutiert. Namensgraffiti seien vor allem Selbstzweck, so Wogrin, Ziel sei es, sich in der Community bekannt zu machen. Den Ärger der ÖBB kann er nachvollziehen, wenngleich nur theoretisch. Der Autor moniert das Fehlen neuer erlaubter Flächen, um Sachbeschädigung zu verhindern.

Ottakring, 1998 

In der Szene sind heute in Wien an die 1.000 Sprayer aktiv. Ein Star ist etwa Ikarus. Seine Aktionen sind spektakulär, der Deutsche seilt sich weltweit unautorisiert (auch hierzulande) an Hausfassaden ab, um sie zu beschreiben. Mit seinen Graffiti macht er auf soziale Anliegen wie Wohnungsnot aufmerksam: Systemkritik von der Straße – und auf der Straße.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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