Gottfried Helnweins Zeichen für das "Recht auf volle Empathie" am Stephansdom

Am Dienstag wird ein großes Werk installiert. Ausgehend von den Ereignissen im Iran soll es aufrufen, Gewalt an Frauen und Kindern nicht zu tolerieren

Gottfried Helnwein weiß, wie man Aufmerksamkeit erregt – und sieht sich damit in einer langen Tradition engagierter Kunst. Nach der Verhüllung des Ringturms (2018) ist er nun erneut im Wiener Stadtraum prominent präsent: Ab Dienstag wird ein großformatiges Bild, mit dem Zusatz "My Sister" ("Meine Schwester") versehen, am Stephansdom prangen - und die Advent-Shopping-Idylle wohl ein wenig stören. Den Anlass der Aktion lieferten die Ereignisse im Iran - die Botschaft soll aber nicht darauf beschränkt sein, wie der Künstler betont.

Wie kam das Projekt, ein Bild eines verletzten Mädchens am Stephansdom zu montieren, zustande?

Gottfried Helnwein: Ich habe mich in meiner Arbeit immer mit dem Thema Gewalt beschäftigt, besonders mit der Gewalt gegen Kinder. Die größte, älteste und weitreichendste Menschenrechtsverletzung ist immer die Gewalt gegen Frauen und Kinder gewesen. Die Menschheit hat sich so dran gewöhnt, dass Frauen unterdrückt, diskriminiert und entrechtet sind, dass es niemandem mehr auffällt. Aber jetzt im Iran haben wir einen der seltenen Augenblicke, wo sich Frauen und gottseidank auch Männer, unter Lebensgefahr offen dagegen auflehnen – und ich finde, wir sind verpflichtet, uns an die Seite dieser Frauen und Mädchen zu stellen. Ich bin im Gespräch mit exil-iranischen Frauen und habe mich entschlossen, eine Installation zu diesem Thema im öffentlichen Raum zu machen.

©Gottfried Helnwein
Inwiefern ist die Aktion spezifisch auf die Situation im Iran abgestimmt?

Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle Ethnien und sozialen Schichten. Das fängt an bei den Herren Weinstein und Epstein, den Reichsten und Mächtigsten, an und geht bis in die ärmsten Gegenden in Indien und anderswo, wo Massenvergewaltigungen stattfinden. Der Iran bietet jetzt eine Chance, weil endlich genug Menschen aufstehen und rebellieren, und der Terror, dem sie ausgesetzt sind, endlich wahrgenommen wird und weltweit Empörung und Entsetzen hervorruft. Mir hat jemand gesagt: Aber die Ukraine ist uns doch viel näher als der Iran oder Afghanistan. Das gilt für mich nicht. Wenn ich weiß, dass in einem dieser Länder eine Frau oder ein Mädchen gefoltert und getötet wird, dann ist es für mich, als wäre es meine eigene Schwester oder Tochter, der das angetan wird. Wir müssen endlich aufhören, Gewalt gegen Wehrlose aus politischen Interessen zu relativieren. Jedes einzelne menschliche Wesen hat das Recht auf Unversehrtheit und verdient unsere volle Empathie.

Welche spezielle Rolle kommt der Kunst hier zu?

Grundsätzlich darf Kunst alles. Aber es gibt eine alte Tradition, wo sich der Künstler als Chronist verpflichtet fühlt, Dinge sichtbar zu machen, die die Menschen lieber verdrängen und unsichtbar lassen würden. Ein berühmtes Beispiel ist die Serie „Die Gräuel des Krieges“ von Goya, oder das Bild „Guernica“ von Picasso. Niemand würde sich mehr an diese kleine Stadt in Spanien erinnern, wo ein paar tausend Leute durch Bomben der Nazis getötet wurden, aber dieses Gemälde hat diesen Ort für immer in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Es ist der wahrscheinlich vergebliche Versuch des Künstlers, die Menschen am Vergessen zu hindern, damit sich Geschichte nicht immer wiederholen muss. Auf jeden Fall ist ein Bild oft mächtiger als 1000 geschriebene Worte, es kann das analytische Denken umgehen und uns zutiefst emotional berühren. Für mich ist Kunst ein Dialog – die Arbeit im Atelier ist ein einsamer Prozess, und es dauert oft Jahre, bis das Werk irgendwo ausgestellt wird und endlich auf einen Betrachter trifft, und erst in diesem Moment, wenn das Bild einen Menschen emotional berührt und bewegt, ist das Werk für mich abgeschlossen. Dann habe ich das Gefühl: was ich versucht habe mitzuteilen, ist angekommen.

©Kurier/Jeff Mangione
Wie geht es Ihnen mit den unterschiedlichen Zeitlichkeiten? Kunst braucht Zeit, um einzusickern, zugleich spürt man enorme Dringlichkeit: Jetzt werden Menschenrechte verletzt, jetzt geht das Klima den Bach runter.

Das unglaubliche Tempo unserer Zeit ist tatsächlich eine Herausforderung für die zeitgenössische Kunst. Aber ich glaube, jede Zeit hat ihre eigenen Schwierigkeiten und Herausforderungen für den Künstler. Es gab eine Zeit, da musste man in einer feudalen Gesellschaft die Herrschenden überzeugen. Man musste seine Botschaft innerhalb eines sehr begrenzten Felds von Themen unterbringen und die Zensur des Auftraggebers hereinlegen, um seine künstlerische Absicht durchzubringen. Aber Künstler haben heute natürlich auch ganz andere technische Möglichkeiten, um auf die Bedingungen und Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren.

Waren nicht die Schüttaktionen in Museen, die zuletzt passierten, ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Langsamkeit des Wandels? Die Aktivisten fragten, wie man Bilder anschauen kann, wenn der Handlungsbedarf beim Klimaschutz so akut ist.

Diese Aktionen sind zunächst einmal nicht Kunst – selbst wenn das jemand so hochstilisieren will. Es ist eine politische Aktion, das Motiv dahinter ist nachvollziehbar und verständlich. Aber dass Kunstwerke angegriffen werden, halte ich für eine katastrophale Fehlentscheidung. Es ist das falsche Ziel. Und es gibt mehrere Aspekte an diesen Aktionen, die ich bedenklich finde – erstmal, dass die meisten dieser Aktionen von Superkapitalisten finanziert werden, die aus dem Ölgeschäft kommen, wie der Getty-Familie. Das Bedürfnis, sich gegen die Zerstörung der Umwelt zu wehren, ist nachvollziehbar, aber die Aktivisten sollten ihre Hausaufgaben machen. Die Militärmaschinierie, ganz voran die Amerikanische Armee mit über 1000 Stützpunkten und hunderten Bio-Kampfstofflaboren, ist einer der größten Verursacher des CO2-Ausstoßes. Warum kleben sich die Aktivisten nicht an die Kasernentore oder Panzer oder Militärfahrzeugen fest? Das wäre doch ein viel intelligenteres Statement. Ein weiteres Ziel wären Multinationale Konzerne wie die Firma Cargill zum Beispiel, die in den USA bei allem, was Sie zu essen kriegen, die Finger mit im Spiel hat, einer der größten Massentierhaltungs-Folterer, und einer der größten Vernichter von Regenwäldern der Welt. Attacken auf die Kunst, Bilderstürmerei und Bücherverbrennungen haben leider eine alte Tradition, sie nützen niemandem und sie schaden uns allen.

Ein Museum bietet für Botschaften einen anderen Resonanzraum als der öffentliche Raum oder die Massenmedien. Sie haben stets auf vielen Klaviaturen gespielt. Machen Sie das strategisch?

Für mich war meine Arbeit immer wie ein Vortasten. Ich wollte nie, dass mir jemand sagt, was ich denken oder tun soll oder darf. Ich treffe immer meine eigenen Entscheidungen, ich frage nie jemanden um Erlaubnis. Ich sehe es wie Kandinsky der gesagt hat: „In der Kunst ist alles erlaubt, solange es aus einer inneren Notwendigkeit kommt“. Daher hat mich auch der reglementierte Kunstbetrieb immer gestört. Ich habe mich nie an irgendwelche Regeln gehalten und jedes Mittel und Medium benutzt, das mir für mein künstlerisches Anliegen geeignet oder notwendig erschien. Ich wollte mit meiner Arbeit Menschen erreichen, in Ausstellungen in Museen und Galerien, aber auch auf Magazin- und Plattencovers, Installationen im öffentlichen Raum und im Theater. Ich glaube, dass alle Arbeiten eines Künstlers im Grunde immer nur um ein einziges zentrales Anliegen oder Motiv kreisen. Und jedes Werk so etwas wie ein neuer, mehr oder weniger erfolgreicher Versuch ist, sich diesem Grundthema zu nähern, es sichtbar zu machen, zu fassen, zu formulieren, obwohl es im Prinzip immateriell, und daher nicht fassbar ist, und keine Form hat. Man hat bei jeder Arbeit das Gefühl, ein bisschen gescheitert zu sein. Deshalb ist jedes Kunstwerk ein neuerlicher Versuch der Annäherung, noch radikaler, noch präziser zu werden.

©Kurier/Jeff Mangione
Sie waren immer ein Mann des großen Formats – wie geht es Ihnen damit, dass wir uns heute Bilder meist auf kleinen Screens anschauen?

Dieser Umbruch aller Werte durch die Elektronik ist atemberaubend. David Bowie sagte in den 90er Jahren: „es ist unvorstellbar was das Internet mit der Gesellschaft tun wird, im Guten wie im Schlechten. Wir stehen am Beginn von etwas Aufregendem und Schrecklichen“. Elon Musk zeigt der Welt gerade wie Twitter massiv, systematisch und willkürlich zensiert und manipuliert hat. Das sehe ich als das größte Problem derzeit: Dass wir dabei sind, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verlieren.

Es ist aber die Frage, ob man von freier Rede sprechen kann, wenn Trump oder Ultrarechte auf diesen Plattformen eine Dynamik in Gang setzen, die ihre Standpunkte riesig aufbläst.

Da haben Sie recht. Die Gratwanderung jeder freien Rede ist, dass diese Freiheit auch demagogisch missbraucht werden kann. Aber die Annahme, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung grundsätzlich gefährlich ist, ist falsch. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass das Gegenteil der Fall ist: die dunkelsten Perioden der Geschichte sind immer mit Zensur einhergegangen. Die Mehrheit der Menschen ist nicht destruktiv und faschistisch, und das Recht auf freie Rede ist ein Grundrecht, das ja auch in der Verfassung verankert ist.

Glauben Sie, dass im Iran der Umbruch gelingt?

Wie wir aus der Geschichte wissen, kann es Momente geben, in denen mächtige Regime, von denen man dachte, sie würde ewig bestehen, in einem einzigen Augenblick plötzlich implodieren und zerfallen. Das, was gerade im Iran passiert, könnte so ein Moment sein. Wobei ich hier kein politisches Statement abgeben will. Ich will mich hier einfach auf die Seite der Frauen und Mädchen stellen, die diesem Terror ausgesetzt sind. Wir alle müssen endlich damit aufhören, Gewalt gegen Frauen und Kinder zu tolerieren.

Michael Huber

Über Michael Huber

Michael Huber, 1976 in Klagenfurt geboren, ist seit 2009 Redakteur im Ressort Kultur & Medien mit den Themenschwerpunkten Bildende Kunst und Kulturpolitik. Er studierte Publizistik und Kunstgeschichte und kam 1998 als Volontär erstmals in die KURIER-Redaktion. 2001 stieg er in der Sonntags-Redaktion ein, wo er für die Beilage "kult" über Popmusik schrieb und das erste Kurier-Blog führte. Von 2006-2007 war Michael Huber Fulbright Student und Bollinger Fellow an der Columbia University Journalism School in New York City, wo er ein Programm mit Schwerpunkt Kulturjournalismus mit dem Titel „Master of Arts“ abschloss. Als freier Journalist veröffentlichte er Artikel u.a. bei ORF ON Kultur, in der Süddeutschen Zeitung, der Kunstzeitung und in den Magazinen FORMAT, the gap, TBA und BIORAMA.

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