Zu Hause bei Gottfried Helnwein: „Mir fehlt Talent zur Anpassung“

Der berühmte aber zugleich polarisierende Künstler öffnet die Tore seines Schlosses in Irland, zeigt seine Kraftorte und spricht darüber, wie er hier lebt, was ihn freut, was ihn sorgt – und verrät auch, wohin es ihn bald wieder ziehen wird: nach Wien.

Das war eine Wahnsinnsarbeit.“ Gottfried Helnwein macht einen großen Schritt durch die Flügeltür des Speisesaals und deutet auf den Renaissance-Kamin, bestückt mit alten, roten Ziegeln. Es ist einer von 30 offenen Feuerstellen in den 40 Räumen dieses jahrhundertealten Schlosses im Süden Irlands, dort, wo sich Kuh und Schaf gute Nacht sagen und das wie aus der Zeit gefallen scheint. Stück für Stück hat der Ausnahmekünstler restauriert und repariert, um es „zu einem Gesamtkunstwerk zu gestalten“. Ganz fertig ist es noch nicht, aber schon jetzt zeigt sich ein faszinierendes Bauwerk eingebettet in eine atemberaubende Landschaft. Fast wie die Filmkulisse eines Fantasy-Streifens, unwirklich und surreal.

Und das ist nicht weit hergeholt, hängt im Gang vor der Küche doch ein überdimensionaler Abdruck eines New-York-Times-Artikels aus dem Jahr 2014, der die Helnweins als lebende Addams-Family abbildet. „Da ging es rund damals“, sagt Helnwein und lacht, „Nach diesem Artikel meldeten sich sechs Produktionsfirmen aus Amerika und England, die uns für eine Reality-TV-Serie gewinnen wollten. Eine schreckliche Vorstellung“, sagt er heute. „Mich interessiert nur meine Arbeit, und dazu brauche ich meine Ruhe, Freiheit und Unabhängigkeit.“

Auf dem Rundgang durch sein Zuhause wird er immer wieder darauf zurückkommen und auch sehr persönliche Einblicke zulassen, die man von ihm noch nicht kannte. „Hier sitze ich am liebsten.“ Gottfried Helnwein stößt eine Tür von der großen Halle auf, es öffnet sich die in Rot gehaltene alte Bibliothek mit einem weiteren Kamin, in dem das Feuer vor sich hinknistert. Er nimmt in einem der beiden Ohrensessel Platz, die links und rechts davon stehen, schaut in die Flammen. Auf einer Seite des Raumes eröffnet sich durch Glasfronten ein Blick auf die gepflegte Parkanlage, auf dem Couchtisch steht eine Vase mit frisch geschnittenem Flieder aus dem Garten.

Parkanlage von Schloß Gurteen Castle in Irland

©Kurier/Jeff Mangione
Wie geht es Ihnen in dieser turbulenten Zeit?

Gottfried Helnwein: Das Wichtigste für mich sind Freiheit und Unabhängigkeit, daher habe ich immer an verschiedenen Orten gelebt und gearbeitet. In den letzten 20 Jahren vor allem in Amerika und Irland. Ich brauche diese Orte, an die ich mich zurückziehen kann, unerreichbar, weit weg von der ganzen Welt.

Damit übertreibt er nicht: Hier funktioniert weder ein Handynetz, noch finden sich elektronische Geräte wie Fernseher im Schloss. Einzig ein Laptop in seinem Atelier spielt eine Klassik-Playlist von Georg Philipp Telemann, oft hört er darauf auch literarische Hörbücher, im Büro von Ehefrau Renate gibt es einen kleinen Laptop über den sie Ausstellungen und Anfragen abwickelt.

Was mich schon als Kind am meisten gestört hat, war die ständige Überwachung, Kontrolle und Regeln durch irgendwelche Autoritäten. Ich war geradezu besessen von der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Vielleicht ist es ein Defekt, aber mir fehlt jedes Talent zur Anpassung und Konformität. Ich war immer erstaunt, wie leicht es anderen Menschen zu sein scheint, sich unter- und einzuordnen. Wahrscheinlich ist man als Künstler dazu verdammt, immer bis zu einem gewissen Grad Außenseiter und Gegenspieler der Gesellschaft zu sein.

Wollen Sie denn unbedingt anders sein?

Nein, es ist mir nur nie gelungen, mich anzupassen, ich wollte auch nie mit meiner Arbeit provozieren, ich glaube aber, dass jede relevante Kunst anfänglich auf Widerstand und Unverständnis stößt und von der Gesellschaft als Provokation empfunden wird. Picasso sagte: „Jedes Kind ist ein Künstler.“ Es ist allerdings schwer, erwachsen zu werden und Künstler zu bleiben. Die Erziehungssysteme zerstören in der Regel die kindliche Kreativität und Fantasie, um einen Staatsbürger zu erzeugen, der berechenbar ist, und den Wünschen der jeweiligen Gesellschaft entspricht. In der Pubertät erleben wir dann noch eine Art Rebellion, ein letzter Versuch, die eigene Unabhängigkeit zu verteidigen, bevor man kapituliert.

Doch hätten wir keine Erziehungsmethoden und keine, wie Sie sagen, „berechenbaren Erwachsenen“, könnte das die Welt aus dem Takt bringen.

Vielleicht wäre es eine Welt mit weniger Gewalt. Um einen Krieg zu führen, braucht man komplette Konformität. Wenn man möchte, dass Millionen Menschen im Gleichschritt marschieren, müssen sie ihre Individualität aufgeben und Teil einer formlosen Masse werden. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt. Das ist auch eines der Grundthemen meiner Arbeit: Gewalt gegen die, die sich nicht wehren können, vor allem Frauen und Kinder.

Er hält einen Moment inne, dann steht er auf und bittet uns in sein Atelier. Wir gehen durch eine kleine Küche im englischen Stil des 19. Jahrhunderts, an den Wänden sehen wir alte Mauersteine, die freigelegt und restauriert wurden, die Decke besteht aus Holz mit Streben, der Boden ist in altem viktorianischem Design gekachelt. Über ein paar Stufen gelangt man in einen weiteren Gang, der schließlich in einen meterhohen länglichen Raum mündet, mit einem Giebel aus Glas, durch das man die im Wind schaukelnden Blätter der hohen Bäume sehen kann. In vier Kojen hängen Bilder, an denen er arbeitet. Das größte zeigt ein Mädchen in weißem Shirt, eine Waffe unter ihrem Arm, ein Auge zugekniffen, mit dem anderen blickt es zielsicher durchs Fadenkreuz. Dieses Werk hat eine Wucht. Wir halten inne.

Ja, diese Arbeit hat mit Gewalt zu tun, und den potenziellen Opfern.

Gottfried Helnwein in seinem Atelier

©Kurier/Jeff Mangione
Aber auch mit Verteidigung.

Richtig, auch das ist ein Aspekt. In meinen Bildern sind es immer Mädchen, es geht um ihre Würde und den Willen zurückzuschlagen, sich zu wehren.

Titel trägt das Werk, das links und rechts von zwei Nahaufnahmen weiblicher Gesichter begleitet wird, noch keinen. Der komme meist erst viel später, sagt Helnwein. Preis will man auch keinen verraten, nur soviel: Reserviert ist es bereits. Wie alle anderen Bilder hier.

Kommen wir zurück zu Ihrer Vorstellung einer Welt frei von Vorgaben. Könnte das nicht auch Gewalt verschärfen?

Es ist interessant, dass Freiheit oft als Gefahr gesehen wird. Das Gegenteil ist Unfreiheit, das heißt der Mensch muss seine Träume einschränken oder aufgeben. Aber wofür? Meist für das Diktat einer kleinen Elite, die den Menschen die Individualität und Würde raubt.

Hier sitzt er am liebsten: In dem großen Ohrensessel am Kamin kommt Helnwein zum Nachdenken, dieser Raum war schon immer die Bibliothek des Hauses, an den Wänden hängen Gemälde der Besitzer aus den vergangenen Jahrhunderten

©Kurier/Jeff Mangione
Doch wie soll eine Gesellschaft ohne Regeln funktionieren, die einerseits nach Glück und andererseits nach Besitz strebt?

Natürlich ist ein Ordnungssystem notwendig, viele Regeln basieren auf Vernunft und Erfahrungen. Totale Anarchie wird nicht funktionieren. Die Gefahr ist aber nie, dass die Menschen zu viel, sondern zu wenig Freiheit haben. Die großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte sind immer durch Gehorsam und Konformität entstanden, nicht durch Freiheit und Individualität. Ich glaube, die Gesellschaft würde mit wenigen Regeln und Einschränkungen viel besser funktionieren. Vor allem sollte es ein uneingeschränktes Recht auf freie Meinungsäußerung geben. Vielleicht gäbe es dann mehr Kreative und Künstler und weniger Soldaten.

Manche würden meinen, das sei eine utopische Welt.

Ja, aber ich glaube, die Grundsehnsucht nach Freiheit ist in jedem Menschen verankert. Man kann sie verschütten, man kann sie vergessen. Aber sie ist da. Die Tragödie ist, dass in der ganzen Geschichte in der Regel ein Prozent der Menschen den anderen 99 Prozent ihren Willen aufgezwungen hat, durch Androhung von Gewalt und durch Propaganda. Wir von der sogenannten 68er-Generation waren der Überzeugung, wir hätten all das überwunden, wir dachten, wir wären frei zu sagen und zu machen, was immer wir wollten, wir verweigerten den Gehorsam und protestierten gegen den Krieg in Vietnam, gegen jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung. Es war ein kurzer Rausch, aber die Realität hat uns bald eingeholt.

Ähnlich wie die Euphorie nach den Corona-Lockdowns, nach Pueyos Modell „Hammer and Dance“?

Nein, damals war das viel gewaltiger und universeller. Es war die Idee, Humanismus einzufordern. Aber es war naiv und nicht realistisch. Vielleicht ist es die Aufgabe des Künstlers, all diese Ereignisse wahrzunehmen und durch seine Arbeit zu beschreiben und zu vermitteln.

Welcher Künstler hat Sie dabei besonders beeindruckt?

Goya. Er hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Zeuge des Aufstandes der Spanier gegen die französischen Besatzungstruppen die Radierungsserie „Die Gräuel des Krieges“ geschaffen. Es war ein Meilenstein der Kunstgeschichte, denn bis dahin wurden Schlachten immer nur glorifizierend dargestellt: Es gab siegreiche Helden und unterlegene Bösewichte. Das wesentlichste Element jeden Krieges ist die Propaganda. Das Narrativ ist immer gleich: die eigenen Kämpfer sind Helden, die feindlichen verbrecherische Monster. Obwohl Goya selbst Spanier war, hat er nicht Partei genommen, sondern gezeigt, dass ein Krieg nur eines ist: der Moment, in dem die Menschen auf die niederste Stufe ihrer Existenz sinken und zu Bestien werden.

Einblick in den privaten Speisesaal der Helnweins 

©Kurier/Jeff Mangione
Kann auch die Kunst einen Beitrag leisten, in Form von Warnungen?

Nein, es ist nicht Aufgabe oder Möglichkeit der Kunst, einen Krieg zu verhindern oder in Politik einzugreifen. Kunst hat keine tagespolitische Relevanz. Doch mit der schonungslosen Beschreibung der Perversitäten und Grausamkeiten des Krieges hat Goya gezeigt, dass es in der tatsächlichen Realität des Krieges nur Verlierer gibt. Leider scheint es uns nicht möglich zu sein, aus der Geschichte zu lernen, und es sieht so aus, als müsse sich die Tragödie immer wiederholen, wie man bei dem Konflikt in der Ukraine sehen kann, der uns gerade an die Schwelle des Dritten Weltkrieges bringt.

Helnwein geht zurück in den Flur vor dem Atelier und biegt in einen der Räume ab. Dort finden sich an den Wänden Dutzende von Goyas Darstellungen. Langsam geht er daran vorbei, betrachtet jede einzelne ganz genau.

Atrium oberhalb des Eingangsbereichs, in dem immer wieder Musikabende stattfinden

©Kurier/Jeff Mangione

Jeder relevante Künstler muss eine gewisse Distanz zu den Ereignissen seiner Zeit haben, um Dinge wahrzunehmen und zu vermitteln, die den Menschen nicht bewusst sind. Ein weiteres Beispiel dafür ist die „Guernica“ von Picasso. Niemand würde sich mehr an die kleine spanische Stadt erinnern, in der die Nazis mit ihren Bomben ein Drittel der 5.000 Einwohner getötet haben. Dieses Gemälde hat den Namen der Stadt für immer in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Kunst kann den Menschen die Möglichkeit der Erkenntnis und Erinnerung geben.

Wie äußert sich das in Ihrer Arbeit?

Meine Arbeit hat sich von Anfang an mit dem Thema Gewalt und der Verwundbarkeit des Menschen beschäftigt, vor allem dem Missbrauch und der Gewalt gegen Kinder. Zu einer Zeit als weltweit in kirchlichen und staatlichen Heimen Kinder misshandelt und vergewaltigt wurden. Die Gesellschaft war erst Jahrzehnte später bereit, dieses Thema aufzuarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass wir gerade eine Gewaltspirale erleben, die durch die Medien und vor allem die elektronischen Medien immer mehr angeheizt wird. Die Gesellschaft wird immer mehr gespalten und polarisiert, vor allem in Amerika, wo man sich daran gewöhnt hat, dass regelmäßig irgendjemand eine Maschinenpistole ergreift und wahllos Menschen erschießt.

Wenn Sie das so sehen, wieso leben Sie dann etwa die Hälfte des Jahres in Los Angeles?

Weil man sich dort im Epizentrum des Weltgeschehens befindet und aus erster Hand erfahren kann, was auf den Rest der Welt zukommen wird. Das amerikanische Imperium erlebt gerade eine existenzielle Krise. Noch niemals hat sich so viel Macht und Kapital in so wenigen Händen befunden, und zu viel Macht korrumpiert immer, damit können Menschen nicht umgehen. Eine kleine Clique von Multimilliardären in Silicon Valley, die eng mit dem Military Industrial Complex verbunden sind, bestimmen das Narrativ und kontrollieren die Kommunikation der ganzen Welt, die fast ausschließlich über das Internet stattfindet. Die sogenannte Political Correctness, Cancel Culture und Zensur haben uns die Luft zum Atmen genommen und die Möglichkeit frei zu kommunizieren drastisch reduziert.

Das würde bedeuten, wir alle leben in Diktaturen ohne es zu merken. Das ist doch etwas weit hergeholt.

Elon Musk ist gerade dabei Twitter zu kaufen, weil dieses soziale Netzwerk massiv manipuliert und zensiert hat. Nach seiner Aussage will er die uneingeschränkte Redefreiheit wieder herstellen und er bezeichnet sich selbst als „Absolutist der freien Rede“. Es scheint also schon etwas dran zu sein, an diesen Befürchtungen.

Dennoch: Früher wurden Ihre Werke beschlagnahmt, Ausstellungen abgesagt. Heute ist das doch anders, Ihre Bilder sind auf der ganzen Welt ausgestellt.

Es gab immer wieder Aktionen gegen meine Kunst, meine Bilder wurden mit der Aufschrift „Entartete Kunst“ überklebt, Installationen wurden mit Messern zerschnitten. Aber das ist etwas, mit dem man rechnen muss, bei Kunst im öffentlichen Raum. Ich habe damit eigentlich kein Problem, es ist Teil des Prozesses, wenn man Kunst als Dialog auffasst. Ich glaube Kandinsky hat gesagt: Kunst wird immer zuerst bekämpft, dann verhöhnt und zum Schluss angebetet. Hermann Nitsch wäre ein gutes Beispiel dafür.

… der zum Ende seines Schaffens eine Wandlung durchlebte und auf optimistisches Gelb anstelle von schaurigem Blutrot setzte.

Wirkliche Kunst wird ihrer Zeit stets voraus sein – deshalb reagieren Menschen zuerst oft mit Ablehnung oder Hass, auch wenn es später in Anbetung endet.

Was macht dieser Hass mit Ihnen als Mensch?

Ich lebe bereits mein ganzes Leben mit Gegenwind. Ich habe mir das nicht ausgesucht, sehe aber auch einen Vorteil darin. Man ist gezwungen, seine Position ständig zu überprüfen, es führt dazu, immer wach bleiben zu müssen. Ich glaube, es ist gefährlicher für einen Künstler, zu früh anerkannt und von der Gesellschaft zu fest umarmt, und mit Titeln und Orden überhäuft zu werden. Diese Umarmung bedeutet meistens den Tod seiner Kunst.

Gibt es in diesem Schloss besondere Orte, an denen Sie über so etwas nachdenken?

Ich habe versucht, das gesamte Anwesen, das Haus und den Park wie eine Installation oder ein Bühnenbild in ein Gesamtkunstwerk zu verwandeln. Ganz anachronistisch im Sinne der Romantik eines Novalis oder Caspar David Friedrichs. Irland ist ein magischer Ort, mit einer leidvollen Geschichte und einer großen poetischen und musikalischen Tradition. Hier kann man Menschen treffen, die allen Ernstes behaupten, Fairies gesehen zu haben. Und ich selbst habe auch schon begonnen, mich mit den Bäumen und Tieren zu unterhalten.

Gottfried Helnwein öffnet eine Tür nach draußen und setzt einen Fuß hinaus, der Schotter knirscht unter seinen Schuhen. Wir gehen an wunderschön platzierten Bäumen und Büschen, sogar Palmen vorbei. Vor uns eröffnet sich ein See, der vor einigen Jahren angelegt wurde. Wir spazieren entlang des Ufers und betreten einen verwachsenen Wald, in dem umgestürzte Bäume liegen und aus denen neue Pflanzen treiben. Immer wieder kommen wir an kleinen Holzbänken vorbei, die alle eines gemein haben: einen wunderschönen Ausblick auf das mächtige Schloss.

Im „Zauberwald“ stehen einige der ältesten Bäume Irlands

©Kurier/Jeff Mangione
Wie kann ich mir das vorstellen, Sie gehen spazieren, Ihnen kommt ein Gedanke und das bringen Sie dann auf die Leinwand?

Eigentlich nicht. Mein künstlerisches Schaffen ist völlig autonom und autark. Ich bin von der Umgebung nicht direkt beeinflusst, arbeite hier genauso wie in Amerika, auch wenn es eine völlig andere Welt ist. Ich stehe früh auf, gehe durch den Garten, dann bin ich versöhnt. Mein Thema habe ich in mir. Ich brauche nur einen Ort der Sicherheit, an dem ich das Gefühl habe, weit weg von allem zu sein.

Ist Wien dann für Sie auch wieder interessant, als Wohn- und Arbeitsort?

Ich habe jetzt, gegen Ende meines Lebens, tatsächlich eine große Sehnsucht nach Wien und nach Österreich. Durch die große zeitliche und räumliche Distanz habe ich die Qualitäten dieses Landes schätzen gelernt, mir ist immer mehr bewusst geworden, wie tief ich mit der Kultur dieses Landes verbunden bin. Sie würden das irische Schloss aber nicht verkaufen?Nein, aber ich werde es auch nicht meinen Kindern vererben. Noch habe ich Pläne zur weiteren Gestaltung, aber in Zukunft soll es ein Platz sein für Künstler und Kreative.

Helnwein lebt hier mit Ehefrau Renate

©Kurier/Jeff Mangione
So ähnlich wie beim Schloss Riegersburg, das Sie kürzlich in Niederösterreich gekauft haben?

Ja, es geht mir nicht um den Besitz oder den Wert einer Immobilie, sondern nur um die Ästhetik der Architektur, die für zukünftige Generationen Inspiration sein kann, ein Ort an dem Kunst und Kreativität stattfinden kann.

In Ihrer Arbeit stellen Sie fast ausschließlich Kinder dar, auf manchen sind ihre Körper blutüberströmt. Sie sind selbst Vater von vier Kindern, wie gehen diese damit um und wie haben Sie diese aufgezogen?

Seit jeher gibt es diese schwachsinnige Vorstellung, dass man Kinder ständig züchtigen und bestrafen muss, da sie sonst auf die schiefe Bahn geraten, und zu verbrecherischen Asozialen würden. Ich hatte diese Bevormundung und die Bestrafungsrituale gehasst, und mir schon als Kind geschworen, dass meine eigenen Kinder einmal vollkommen frei aufwachsen würden, ohne jeglichen Zwang, frei ihre Kreativität auszuleben. Ich wollte nie ihr Vorgesetzter sein sondern eher ein Verbündeter. Ich habe ihnen sogar angeboten, der Schule fernbleiben zu können, wenn sie wollten, ich hätte jede Entschuldigung unterschrieben. Ich selbst habe die Schule gehasst, aber seltsamerweise gingen meine Kinder gerne zur Schule. Da wir ein nomadenhaftes Leben führten, wechselten sie die Schulen oft, zwischen Wien, Deutschland, England und Amerika. Geschadet hat es ihnen offensichtlich nicht, alle sind künstlerisch tätig: meine Tochter Mercedes ist Schriftstellerin und Malerin, mein Sohn Ali ist Komponist, Cyril ist mein Assistent, er ist Fotograf, und Amadeus arbeitet an der University in Cork.

Man spürt den Familienmenschen Helnwein: Seine Augen funkeln unter der dunklen Sonnenbrille. Immer schon wollte er Teil einer Großfamilie sein, heute liebt er es, wenn er seine vier Enkelkinder im Atelier toben hört, und die vier Hunde dazu bellen. Dann könne Leben stattfinden, sagt er. Im Atrium finden immer wieder Tanzabende statt, da wird der große Teppich aufgerollt und 20 bis 30 irische Musiker spielen und tanzen bis zum Morgengrauen. Er selbst schwingt nicht das Tanzbein, dafür aber Frau Renate. Auch Freunde zählen zur Familie: Sean Penn war hier, Andrew Lloyd Webber ist Nachbar und hat kürzlich Prinz Charles beherbergt. Ben Kingsley war zu Gast, ebenso die Presley-Familie, der es so gut gefiel, dass sie zwei Monate blieben. Helnwein möchte sich mit verschiedenen Menschen austauschen, hat Sehnsucht nach Meinungen, die aufeinanderprallen. Es zwinge, die eigene Position zu überdenken, sagt er. Am meisten liebe er es, dabei zu lernen und manchmal „zuzugeben, dass man Unrecht hatte.“

Wenn Sie kein Künstler geworden wären, was dann?

In meiner Jugend wollte ich Kinderarzt oder Revolutionsführer werden. Aber schließlich habe ich erkannt, dass in dieser Gesellschaft kein Platz für mich war und der einzige Ausweg, der mir blieb, war Künstler zu werden.

Und jetzt sind Sie zusätzlich auch Baumeister.

Ja, ich habe mich zu einem Spezialisten für historische Architektur entwickelt, ein gutes Gegengewicht zu meiner Malerei, dreidimensional zu arbeiten. Dieses neogotische Schloss wurde Ende des 18. Jahrhunderts auf den Mauern eines viel älteren Gebäudes errichtet. Ich kenne jedes Detail, alle Materialien, Stilelemente und alte Techniken um so ein Gebäude authentisch zu restaurieren und zu rekonstruieren. Ich habe mich auch intensiv mit der Englischen Landschaftsarchitektur des 18. Jahrhunderts beschäftigt, einen See angelegt und viele Bäume gepflanzt. Als wir hier ankamen, war der alte Park vollkommen verwildert, aber zu dem alten Baumbestand gehören einige der ältesten und größten Bäume Irlands. Darunter Mammutbäume, Palmen und ein Bambushain. Außerdem habe ich mir hier mein eigenes kleines Entenhausen mit 25 Enten geschaffen.

In einem Regal stehen Figuren von seiner verehrten Figur Donald Duck – sie war für ihn Lichtblick in einer dunklen Zeit seines Lebens

©Kurier/Jeff Mangione
Für Sie ganz besonders, wenn ich mir Ihre Donald-Duck-Sammlung im Regal ansehe.

Ja, ich habe mir den Traum meiner Kindheit erfüllt, alle Micky-Maus-Hefte, die ab 1951 erstmals in deutscher Sprache erschienen, in Leder gebunden in meiner Bibliothek stehen zu haben.

Woher kommt diese Faszination?

Ich bin ja kurz nach dem Krieg in ein Vakuum hineingeboren worden. Der Schatten des Tausendjährigen Reichs hing noch über der Stadt. Die Menschen waren grantig und depressiv und wir Kinder hatten nichts. Und eines Tages hielt ich mein erstes Micky-Maus-Heft in den Händen, ich betrat das erste mal Entenhausener Boden und begegnete dem Mann, der mein Leben für immer verändern sollte: Donald Duck.

Es sei ein Lichtblick für ihn gewesen. Wir kommen in den „Sunken Garden“, hier blüht Flieder in knalligem Lila, in der Mitte steht eine alte Statue. Es ist die letzte Station, bevor wir ins Schloss zurückkehren. Gottfried Helnwein atmet tief ein und aus und tut etwas, das er ganz selten tut: er lächelt.

Marlene Auer

Über Marlene Auer

Chefredakteurin KURIER-freizeit. War zuvor Chefredakteurin bei Falstaff und Horizont Österreich, werkte auch als Journalistin im Bereich Chronik und Innenpolitik bei Tages- und Wochenzeitungen. Studierte Qualitätsjournalismus. Liebt Medien, Nachrichten und die schönen Dinge des Lebens.

Kommentare