Warum verlieren wir derzeit so oft das Zeitgefühl?

Fragen der Freizeit ... und Antworten, die euch überraschen werden.

Das war kurz nach Corona!“ – „Nein, das ist doch schon viel länger her. Weißt du nicht, das war der Urlaub in Grado. Da war Corona noch gar kein Thema!“ –  „Nein,  das Jahr DAVOR waren wir in Zypern, und da haben sie uns am Flughafen schon völlig überraschend diese Wattestäbchen durch die Nase bis ins Hirn gesteckt. Da hat es gerade angefangen!“ – „Hm ...“

Woran liegt es, dass es derzeit vielen von uns so schwer fällt, Ereignisse chronologisch genau festzuhalten – es ist beinahe, als würden sie uns zwischen den Fingern zerrinnen.

War der Besuch bei  Onkel Franz während des ersten Lockdowns oder doch während des dritten? Oder während der zweiten Pandemie-Weihnachtsferien? Verdammt, wie viele hatten wir denn jetzt eigentlich schon?

Da haben wir’s also: Die Pandemie ist schuld! Weil, wie die Psychologie bestätigt, in Zeiten der eingeschränkten sozialen Aktivität unsere Gedanken um sich selbst zu kreisen beginnen.

Die Tage bieten wenig Abwechslung, fließen quasi ineinander, werden zu Wochen, Monaten – da fällt es dann paradoxerweise schwer, die spärlichen Highlights richtig zu verorten. Das passiert, wie Kulturwissenschaftler Johannes Domsich erklärt, wenn „die Koordinaten gewohnter Alltäglichkeit“ abhanden kommen. Homeoffice statt persönlicher Austausch im Büro, Kinderbetreuung statt der üblichen Tennisstunde, Netflix-Binge-Watching statt des After-Work-Bierchens mit den Kollegen.

Dazu kommt allerdings noch ein Phänomen, das wir nicht der Pandemie anlasten können: Eine in Deutschland durchgeführte Studie bei 14- bis 94-Jährigen ergab, dass die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Langsam für die Teenager, etwas schneller für junge Erwachsene –   und immer schneller und schneller ab 50. Warum? „Das Gedächtnis bestimmt die Zeitwahrnehmung“, sagt der Freiburger Psychologe Marc Wittmann.

Und je voller die Festplatte unseres Gedächtnisses wird, desto weniger einzigartig sind  Erlebnisse wie ein Urlaub, eine weitere Familienfeier, die x-te Fußball-WM.

Dagegen gibt’s nur ein Mittel: Alles, was wir erleben, zutiefst bewusst und in vollen Zügen genießen.

Frage der Freizeit

Hier schreiben Autoren und Redakteure der freizeit abwechselnd über Dinge, die uns alle im Alltag beschäftigen.

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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