Der Steffl hat den Fenstergucker, der Strudel seinen Apfel – und Wiens Straßen haben ihre Tramway

Die Bim, mit der die Toten fuhren: Wien-Tour mit dem 71er

Die 71er Straßenbahn zieht an vielfältigsten Wien-Szenen vorbei: blühende wie morbide, historische wie progressive – und auch märchenhafte.

Von Belinda Fiebiger

"Die Bim kommt erst in drei Minuten, Zeit, um euch was über den Hochstrahlbrunnen zu erzählen." An der Haltestelle am Schwarzenbergplatz drängt sich die kleine Gruppe um das Buch. Bereit, zuzuhören.

Und so erfährt man auf Seite 155, wo das Kapitel über die Straßenbahnlinie 71 anfängt, dass der Brunnen am Ende des Platzes an die Eröffnung der Ersten Wiener Hochquellenwasserleitung erinnert. Am 24. Oktober 1873 ging er im Beisein von Kaiser Franz Joseph I. in Betrieb. Dahinter erhebt sich das "Heldendenkmal der Roten Armee", in Wien auch "Russendenkmal" genannt.

Es erinnert an die vielen Tausenden Rotarmisten, die im April 1945 bei der Befreiung Wiens im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht gefallen sind. Der lang gezogene Schwarzenbergplatz ist damit einer von 28 Ausgangspunkten, die die Autoren Beppo Beyerl und Thomas Hofmann in ihrem Reiseführer "Wien entdecken mit der Bim" für eine Stadttour ausgewählt haben.

Reiseführer "Wien entdecken mit der Bim" von Beppo Beyerl und Thomas Hofmann,
Styria Verlag
 

©Verlag

Sechsgrößtes Bim-Netz der Welt

227,1 Kilometer werden in Wien durch das Straßenbahnnetz abgedeckt. Damit ist es das sechstgrößte weltweit, nur übertroffen von Melbourne, Sankt Petersburg, Sofia, Berlin und Moskau. Wobei all diese Städte, ausgenommen Sofia, weitaus größer sind. Die Wiener Bevölkerung pflegt also ein Naheverhältnis zu ihrer Bim. Und so hat uns Beyerls und Hofmanns Buch inspiriert, an einem Herbstwochenende die Route vom Schwarzenbergplatz bis zum Zentralfriedhof abzufahren.

Leichen fuhren mit der Bim 

Seit 1901, als die Simmeringer Pferdebahn durch eine elektrische Straßenbahn abgelöst worden ist, ist der 71er als Friedhofsbahn bekannt. Einst beförderte er nicht nur Trauernde, sondern auch diejenigen, um die getrauert wurde. So gab es von 1918 bis ca. 1939 eigene Leichentransportwagen, die zumeist nachts unterwegs waren. Zudem gab es Aufhängevorrichtungen für Kränze und Blumen. Mancher kennt heute noch den Ausdruck "Er/Sie hat den '71er' genommen" als Metapher für Verstorbene. Dagegen ist die von Beyerl und Hofmann vorgeschlagene Tour lebensbejahend: Ihnen geht es um das Hier und Jetzt, um das Schauen und Entdecken.

Am Ende des Schwarzenbergplatzes wartet der Hochstrahlbrunnen. 

©Getty Images/iStockphoto/irisphoto2/IStockphoto.com

Vom Schwarzenbergplatz, wo sich im Vorgarten des Hauses Nummer 2 hinter einer Steinbalustrade der kleinste Weingarten Wiens versteckt, geht es mit der Bim zunächst auf den vielbefahrenen Rennweg.

Stetig Stadtauswärts

Linker Hand reihen sich gleich mehrere Botschaften aneinanderreihen. Etwa die kroatische (vormals die serbische und davor die jugoslawische). Sie ist ein früher Bau Otto Wagners, der das prunkvolle Palais eine Zeit lang selbst bewohnte, wie der Reiseführer preisgibt. Vorbei geht es an der "Kirche zum Heiligen Kreuz", heute Sitz der polnischen Gemeinde in Wien.

Der Botanische Garten, der direkt an den Park des Belvedere anschließt, leuchtet ab Oktober in den schönsten Herbstfarben.

©Belinda Fiebiger

Zur rechten Seite breitet sich das Areal des barocken Schloss Belvedere aus. Kunstinteressierte können hier die Bim verlassen. Die Station ist nach dem hier angesiedelten Museum benannt: "Unteres Belvedere", wo erlesene Werke aus dem Mittelalter und der Renaissance zu sehen sind. Ein Plakat verrät, wovon die aktuelle Sonderausstellung handelt: vom Schaffen eines großen Vertreters der internationalen Moderne. Akseli Gallen-Kallela war um 1900 der progressive Künstler Finnlands, der Landschaften, Mythen und Menschen in dynamisch wirkenden Kompositionen auf die Leinwand bannte (zu sehen bis 2.2.2025).

Das Untere Belvedere
 

©© WienTourismus/Gregor Hofbauer/WienTourismus/Christian Stemper

Blühender Herbst

Da der Tag aber Sonne und blauen Himmel mitgebracht hat, fahren wir eine Haltestelle weiter und besuchen stattdessen den Botanischen Garten der Universität Wien (freier Eintritt). 1754 unter Kaiserin Maria Theresia als "Medizinalpflanzgarten" gegründet, beherbergt er heimische, exotische und rare Pflanzenarten.

Heute sind es etwa 11.500 und überraschend viele davon blühen noch im Herbst. In nicht ganz so großer Zahl vorhanden: Die Eichhörnchen, die gerade Wiesen, Sträucher und Bäume nach Früchten, Samen und Nüssen für den Wintervorrat absuchen. Nach einem kurzweiligen Rundgang fährt bereits der nächste 71er ein.

Ins Viereck des Straßenbahnfensters schiebt sich die Erlöserkirche, erbaut 1834 bis 1836 nach Entwürfen von Carl Roesner. Allmählich verändert sich die Stadt, wird weniger repräsentativ, dafür moderner: Bürogebäude und Zentren wechseln einander ab, verdecken die Sicht auf die denkmalgeschützte Marx Halle. Einst eine Rinderhalle, tritt sie nun als (oft immersive) Veranstaltungsstätte in Erscheinung. 

Wahrzeichen von Simmering

Nach der Unterquerung der Südosttangente breitet sich Simmering mit seinem historisch gewachsenen Ortsbild aus. Die zweigeschoßigen Häuser erinnern an eine Dorfstraße, dazu gesellen sich die höheren Häuser der Gründerzeit von 1848 bis 1914. Wir passieren den Enkplatz mit der Neusimmeringer Pfarrkirche. Um 1905 im neuromanischen Stil und mit Doppelturmfassade errichtet, ist sie das Wahrzeichen des Bezirks. 

Was verschwunden ist, verrät der erneute Blick in den Reiseführer: Die alteingesessenen Läden – wie Handarbeitsgeschäfte, Strick- und Wirkwaren – sind von Orient-Bars, Elektronikgeschäften, türkischen Lebensmittelgeschäften sowie Imbissläden ersetzt worden. In Schaufenstern drehen sich Dönerspieße. Hunger meldet sich – gut, dass der 71er bald wieder halten wird.

Der Simmeringer Froschkönig von Gottfried Kumpf

©Belinda Fiebiger

Was beim Aussteigen an der Haltestelle "Simmering" dann doch überrascht: der hüfthohe Froschkönig, der an der Kreuzung Simmeringer Hauptstraße und Kaiser-Ebersdorfer-Straße wartet. Hier hat Künstler Gottfried Kumpf (1930–2022) einen Brunnen entworfen, auf dem der gekrönte, rund 300 kg schwere Bronze-Frosch sitzt. Manche haben bereits anderorts Bekanntschaft mit einem Kumpf-Geschöpf gemacht. Die kleine Elefantenplastik vor dem Naturhistorischen Museum stammt ebenfalls von ihm.

Die Kirche zum heiligen Karl Borromäus am Zentralfriedhof

©© WienTourismus/Gregor Hofbauer

Endstation

Der Zentralfriedhof bahnt sich an. Die Bim hält an allen vier Toren. Wer zuvor dem Ruf des Kebabs widerstanden hat, kann beim ersten Tor im Concordia-Schlössl einkehren und sich bei Gulaschsuppe, Erdäpfelpuffer oder Schnitzel stärken. 

Eine überlebensgroße Christusfigur aus Stein dominiert den Gastgarten – sie erinnert daran, dass hier einmal die K.u.K-Hof-Steinmetzmeister Sommer und Weniger zu Werke gingen. 

Wiens große Söhne besuchen

Geht man durch das erste Friedhofstor kommt man zum alten jüdischen Teil, wo auch Arthur Schnitzler und Friedrich Torberg liegen. Entlang der Friedhofsmauer geht es zum Hauptportal (dem zweiten Tor) und zu den Ehrengräbern: von Beethoven bis Strauss, von Hans Moser bis Curd Jürgens. Beim dritten Tor sind der evangelische Teil und der neue jüdische Teil angesiedelt. Vor dem vierten wartet wieder der 71er. Wir steigen ein – per Umkehrschleife geht es wieder zurück in die Stadt und zurück ins Leben.

Belinda Fiebiger

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