Kurtisanen, Casanova, Karneval: So wild trieb es das alte Venedig
Die Lagunenstadt war lange ein Hort des frivolen Treibens. Und eine queere Hochburg. Was die Busenbrücke damit zu tun hat.
Der Geist des Karnevals in Venedig lebt von vergangenen Zeiten. Reiseveranstalter bemühen heute noch Attribute wie lasterhaft, ausschweifend, libertin, wenn sie das Spektakel bewerben. Mehrere hundert Jahre war die Dogenstadt - nicht nur während des Maskenspektakels - ein delikater Tummelplatz für Händler, Seefahrer, Vergnügungssüchtige und Prostituierte.
Die Stadt war vergleichbar mit dem Bangkok von heute. Sie lockte Sex-Touristen aus ganz Europa an, und in London wusste ein Edelbordell namens "Venezia" den Ruf für sich zu nutzen. Neben Straßenprostituierten buhlten in der "Biberrepublik" (Goethe) die sinnlichen und gebildeten Kurtisanen um wohlhabende Kunden.
12.500 käufliche Damen sollen um 1500 hier gelebt haben - und das bei 130.000 Einwohnern. Manche Forscher zweifeln diese Schilderungen, dass jede vierte Frau ihren Körper verkaufte, an. Aber niedrig war die Zahl der Sex-Arbeiterinnen auf keinen Fall.
Prügel für Kuppler
Zunächst war die Prostitution im Mittelalter nicht strafbar. Ab Beginn des 14. Jahrhunderts wollte die venezianische Regierung das Treiben eindämmen. Und zwar nicht nur wegen Sittenverfalls, sondern auch wegen der Ausbreitung von Seuchen. Zur Pestabwehr beschlossen Senat und Rat Ende des 15. Jahrhunderts härter durchzugreifen: Sie schrieben Kupplern das Tragen einer Kleidung von gelber Farbe vor.
"Da sie die Ursache so vieler Übel seien, müssten sie allen erkennbar sein, auch damit andere angesichts so üblen Beispiels sich eines so erniedrigenden Gewerbes enthielten. Zuwiderhandeln wird mit Auspeitschen von S. Marco bis zum Rialto und mit ewiger Verbannung gestraft", schreibt in den 1950ern der Hygieniker Ernst Rodenwaldt in seiner Abhandlung "Die Gesundheitsgesetzgebung des Magistrato della sanità Venedigs.1486-1850". Denunzianten erhielten 50 Lire aus dem Eigentum der Missetäter - und wenn die nichts hatten, aus der öffentlichen Kasse.
Geholfen hat es nichts, die Prostitution wurde wieder erlaubt. Auch weil man damit eine Sünde verhindern wollte, vor der laut dem Prediger Bernadino von Siena "sogar der Teufel flieht": gleichgeschlechtlichen Verkehr. Im Mittelalter setzte es drakonische Strafen für Homosexuelle. Noch im 15. Jahrhundert wurden Männer jeglichen gesellschaftlichen Status - auch Adelige - für gleichgeschlechtliche Beziehungen verbrannt. Aber so streng die Autoritäten auch waren, sie verhinderten nicht, dass im 16. Jahrhundert eine lebendige Schwulenszene in Venedigs Untergrund entstand.
Die Männer nutzten laut der Plattform Culture Trip Schlupflöcher im Gesetz. Während des Karnevals galten manche Delikte nicht als strafbar, wenn der Täter eine Maske trug. Männer banden sich eine katzenartige Maske, die Gnaga, um und verkleideten sich als Frauen, um straffrei mit anderen Männern Sex zu haben. Melanie Marshall, Forscherin an der irischen Cork-Universität fand anhand von Liedertexten heraus, wie sehr queere Anspielungen in der damaligen Kultur vorhanden waren. So entdeckte sie in einem Stück des Komponisten Antiono Barges eine nicht unbedingt poetische Widmung an einen Liebhaber: "Er hat mich mit seinem Ding platt gemacht.”
Das wollten offenbar viele Männer erleben. Gegen Ende der Renaissance gab es so viele Stricher, dass sie mit Dirnen um Kunden kämpften. Die Damen wandten sich sogar an Bischof Antonio Contarini, er möge dem Einhalt gebieten. Weibliche Prostituierte duften dann ihre Brüste in bestimmten Teilen der Stadt entblößen. Einerseits sollten sie so zeigen können, dass es sich bei ihnen wirklich um eine Frau handelt. Andererseits sollten sie mit ihrem schönen Busen Freier davon abhalten, sich mit Männern einzulassen. Ob das etwas bewirkt hat, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall gibt es aus dieser Zeit die Ponte delle Tette, die Busenbrücke.
Plateauschuhe zum Schauen
Nicht nur auf die nackte Haut, auch auf die Kleidung wurde viel Wert gelegt. In der Renaissance waren auf einmal Schuhe mit bis zu 70 Zentimeter hohen Absätzen modern. Die Frauen konnten sich dann nur mehr noch abgestützt an Dienern bewegen. „Im Fall der ‚gut betuchten‘ Damen geht man davon aus, dass die durch die zusätzliche Körpergröße erforderliche Stoffmenge der Röcke den persönlichen Reichtum demonstrieren sollte“, erklärt Lara Steinhäußer, Kustodin der Sammlung Textilien und Teppiche vom MAK. Aber auch die Kurtisanen begannen, hohe Schuhe anzuziehen. Aus einem anderen Grund. Sie konnten so hervorragend Freier von der Ferne ausmachen. Der gute Ruf war dahin.
Für einen nicht allzu guten Ruf bei seinen Lesern sorgte auch Johann Caspar Goethe. Wie später der Sohne Johann Wolfgang machte der Vater eine italienische Reise. In seiner "Viaggio per l'Italia" aus dem Jahr 1740 beschreibt er das Treiben: "Mit Einbruch der Dunkelheit suchen dort (unter den Arkaden der Prokuratie) dann, genau wie bei uns zu Hause, die Nymphen Venedigs ihr Glück - und wehe denen, die ihnen unvorsichtigerweise in die Netze gehen! Oft versteckt sich unter einer schönen Maske und auf wohlgeputzten Füßen die gemeinste und hässlichste Fratze der Welt. Mit ihren Schmeicheleien ziehen sie aber ihre Opfer in den Bann, und wer darauf hereinfällt, der bleibt hängen."
Er zeichnet auch ein schlechtes Bild von Müttern, die "die Ehre ihrer Töchter zu Markte tragen und deren Jungfräulichkeit feilbieten, als wären sie eine Mietskutsche". Und auch dass Töchter zwangsverheiratet oder ins Kloster überstellt werden, gefällt Goethe sen. nicht, wie Germanist Ralf Georg Czapla in "Autobiographisches Schreiben im Zeichen von Einflussangst" darlegt.
Oft versteckt sich unter einer schönen Maske und auf wohlgeputzten Füßen die gemeinste und hässlichste Fratze der Welt.
Die Kinder der Patrizier sollten vor den schlechten Einflüssen draußen geschützt werden. Es half aber wenig. Gondolieres brachten Liebesschwüre hinein und wieder hinaus. Freier verkleideten sich als Nonnen, Beichtväter waren Zuhälter. Casanova soll sich auch mehrmals hinter Klostermauern geschlichen haben. Und einmal, so erinnert er sich, sei ihm eine Äbtissin für Geld angeboten worden.
Es war eine Zeit, in der Venedigs Reichtum und Macht am absteigenden Ast war. Dafür ließ man es krachen. Der Tanz auf dem Vulkan - wie man es aus dem Berlin der Goldenen Zwanziger kennt. "Der Karneval dauerte von Oktober bis Weihnachten, dann wieder vom Dreikönigstag bis zur Karwoche, dann wieder zu Ostern und an hohen Feiertagen wie der Wahl des Dogen. Der Karneval hörte gar nicht mehr auf", schrieb Alexander Smoltczyk einmal im Spiegel Geschichte.
Casanova, ein Astronom, Alchemist, Philosoph, Musiker und eben großer Verführer, kam zwischen seinen Reisen immer wieder in seine Heimatstadt, auch zum Karneval. Nicht immer zeichnete er sich aus. So schrieb er, dass er während des Fests 1746 eine schöne, junge Dame reingelegt hatte. Sein Freund und er erklärten ihr, ihr Mann sei in Gefahr. Er könne nur gerettet werden, wenn sie sich ihnen hingebe. Casanova berichtete in seinen Memoiren, dass sie lachten, als ihnen die Dame am Morgen dankte. Heute wäre das keine Heldentat, sondern sexuelle Nötigung.
Auch andere benahmen sich daneben. Der Geschichtsforscher Johann Georg Keyßler berichtete den Daheimgebliebenen von dekadenten Jungadeligen, die sich derart aufführten, „dass sie in Opern und Komödien nicht nur die Schalen von Pommes de Sina (Orangen) und anderen Früchten, so sie essen, sondern auch ihren Speichel aus den Logen auf die im Parterre sitzenden Personen herabspeyen“.
"Lass die Frauen"
Aber dieses "Anything goes" zog an. "Ich habe meine Philosophie etwas beiseite geschoben, und ziehe mich an wie die anderen, so dass ich maskiert durch die Straßen und ins Schauspiel gehe“, so ein junger Jean-Jacques Rousseau. Viel Glück hatte er nicht: "Lass die Frauen und kümmere dich um Mathematik", soll ihm eine Kurtisane empfohlen haben.
Venedig musste sich zusehends um andere Dinge kümmern, etwa den Niedergang der Markusrepublik 1797 durch Napoleon. Es wurde an Österreich angegliedert, verlor die Selbstständigkeit und zunehmend die Lust aufs wilde Leben und aufs große Feiern. Der Karneval verschwand zusehends. Zwar gab es im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder Versuche, ihn wieder groß werden zu lassen. Es sollte aber bis Federico Fellinis Film Casanova aus dem Jahr 1976 dauern, bis der Karneval vor allem aus touristischen Gründen wiederbelebt wurde.
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