Wenn es Touristen in die Rotlichtviertel zieht

Gegenden mit einem zweifelhaften Ruf gehören für viele zum Sightseeing dazu. Verruchtes zieht an. Aus übel beleumundeten Bezirken wurden Ausgehviertel.

Jeden Abend zieht es tausende Menschen nach De Wallen. Noch wichtiger als die Nachtwache im Amsterdamer Rijksmuseum zu sehen, ist für viele immer noch ein Besuch im wohl bekanntesten Rotlichtviertel der Welt. Familien, Paare, Pensionistengruppen, junge Frauen auf Wochenendtrip, und auch sehr viele besoffene und eingerauchte Männerrunden auf der Suche nach Abenteuer, egal welcher Art, schlendern durch Straßenzüge.

Sie gaffen auf die Sex-Arbeiterinnen in den in Neonrot beleuchteten Kabinen, die in Reizwäsche um Freier werben. So die Besucher diese Gassen gefunden haben. Die Orte sind auf Druck der Behörden zuletzt weniger geworden. Studenten-WGs, Burgerlokale oder gar gediegene Champagnerbars und Kunstgalerien sind nun dort. Es riecht nach Fett, Gras und holländischen Waffeln.

Auch die Dealer preisen den vergnügungssuchenden Besuchern aus aller Welt nicht mehr so offensiv ihre schlechte Ware an. Im besten Fall war sie wirkungslos, im schlechtesten tödlich. Vor ein paar Jahren noch warnten LED-Anzeigen in der ganzen Stadt vor auf der Straße verkauftem Kokain, das in Wirklichkeit hochpotentes weißes Heroin war. Es ist sicherer geworden – die Polizei und Security-Truppen patrouillieren, Kameras zeichnen das Treiben auf. Die größte Gefahr für Touristen sind – wie immer, wenn viele unvorsichtige Menschen zusammenkommen – die Taschendiebe.

Platz für Einheimische

Und das wird sich zukünftig noch weiter ändern. Nur noch „waardevolle bezoeker“ (wertvolle Touristen) mit Interesse an Grachten, der kulturreichen Geschichte oder einer in Maßen genossenen Barkultur sollen hier flanieren, wenn es nach der Bürgermeisterin geht.

„Auf De Wallen wimmelte es bisher von Gaffern und Partytouristen, die belasten das Viertel und behandeln die Sexarbeiterinnen respektlos“, sagte Femke Halsema der Zeit. Sie will die Prostitution an den Stadtrand in ein Laufhaus verbannen und das „größte Freilichtmuseum“ Amsterdams wieder Einheimischen schmackhaft machen.

Es ist wohl das berühmteste Rotlichtviertel der Welt. Im ältesten Teil der niederländischen Hauptstadt liegen die sogenannten Wallen, dort sitzen seit Jahrhunderten Prostituierte in rot erleuchteten Fenstern und bieten ihre Dienste an. Zuletzt wurden es immer weniger. Viele Parteien in der Stadt setzten sich für eine Schließung ein – sie wollen ein neues „Erotikzentrum“ außerhalb der Stadt.  Durch die große Zahl von Touristen sind die schmalen Gassen vor allem nachts und an den Wochenenden überfüllt. Um den Ansturm zu stoppen, wurden im Frühjahr des Jahres 2020 Führungen verboten.

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Es ist paradox. Das Geschäft mit dem käuflichen Sex gilt oft als unmoralisches Business, mitunter mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität: Menschenhandel, Ausbeutung, Zuhälterei, Drogengeschädigte, Schutzgelderpressung. Sie ist den Behörden ein Dorn im Auge. In vielen Städten versuchen sie, die Etablissements mit ihren leuchtenden Schildern aus den Zentren zu verbannen. Doch die Rotlichtbezirke wirken auf Touristen wie Magneten. Das Verruchte zieht an, wohl auch, weil es mittlerweile relativ ungefährlich wirkt. Viele Gegenden haben sich in der Vergangenheit doch sehr verändert.

De Wallen oder Soho in London waren ab den 1970ern teilweise „No-Go-Areas“. In der britischen Hauptstadt warteten hunderte Frauen auf der Straße auf Freier, viele wurden Opfer von Zuhältern oder Kriminellen. Dazu wurde Soho ein Anlaufpunkt für Dealer und Drogenkranke. Die Polizei schaute weg oder war gekauft. Die Lage war so schlimm, dass die Einheimischen das Parlament anriefen. Die Polizei griff hart durch, vertrieb viele Prostituierte aus ihren Apartments.

Das Viertel im West End der Englischen Hauptstadt  war im 19. Jahrhundert  ein Sündenpfuhl  im Viktorianischen Zeitalter.  Das vormals  reiche Viertel beherbergte viele Theater und Tanzhallen, die Vergnügungssuchende anzogen. Die Armut war groß, die Prostitution explodierte. Trotz angeblicher Sittsamkeit schossen hier die ersten Porno-Geschäfte aus dem Boden, die explizite Drucke, Kataloge über lokale Sex-Arbeiterinnen und Guides für Homosexuelle verkauften. Ab den 1930er-Jahren kamen Künstler, die auf der Suche nach billigen Wohnungen waren. In den späten 70ern starteten Behörden Versuche, das Rotlicht und die Sex-Shops zurückzudrängen. Heute ist Soho mit seinen Bars, Pubs, Märkten, Musicals und Theatern ein beliebtes Ausgehviertel  – besonders bei Touristen.  Verruchte Ecken gibt es noch, die sind aber rar gesät.

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Auch die Lage im Zentrum der Städte ist wohl mitverantwortlich dafür, dass die Menschen in die Rotlichtviertel strömen. Sie sind für Besucher leicht zu erreichen. „Aus dem Unmoralischen wird auf einmal ein Konsumgut für die Massen“, schreiben etwa die Forscher Marthe Singelenberg und Wouter van Gent. Sie beschäftigen sich mit der Gentrifizierung von Rotlichtbezirken, also dem Strukturwandel, wenn einkommensschwache Schichten zugunsten von einkommensstarken verdrängt werden.

"Saubere" Erwachsenenunterhaltung

Dadurch, dass breitere Schichten angesprochen werden, hat sich die Sexindustrie gewandelt. Anstelle von grindigen Stripklubs, Peepshows und Sexshops gibt es nun professionell betriebene, sauber wirkende „Erwachsenenunterhaltung“, etwa in Form von exklusiven erotischen Nachtklubs. Und das macht die Viertel wieder interessant für Investoren, die den Gegenden ihren Stempel aufdrücken, in vormals abgeranzte Häuser Luxusappartements setzen und die Gegenden für neues Publikum erschließen.

Einige Viertel – wie De Wallen und Soho waren aber stets auch Orte der Kreativität. Sie zogen Bohemiens, Schriftsteller oder Maler und Migranten an. Neben Bordellen gab es hier stets auch Theater, Ateliers und mitunter kulturellen Austausch. Die Mieten waren billig, das Nachtleben mit Bars und Tanzlokalen blühte, das Klima war tolerant – hier entstanden die ersten Schwulen- und Lesbenlokale der Städte. Und wenn es wo lebendig ist, kommen irgendwann unweigerlich auch finanzkräftige Menschen und dann die Touristen, die ein Stück vom bunten Treiben mitbekommen wollen. Das bedauern mitunter Alteingesessene. „Die Luft war sauber, der Sex war schmutzig. Heute ist es umgekehrt. Soho hat sein Herz verloren“, schrieb der Autor Sebastian Horsely einmal.

Angesagte Mausefalle

Eines der ehemaligen verruchten Viertel, die heute schwer angesagt sind, ist Pigalle. Die „größte Mausefalle mitten in Paris“ beherbergt noch ein paar Fetisch-Geschäfte mit allerhand Lack- und Leder-Geschirr und Masken aller Art. Aber eigentlich geht man hier um viel Geld frühstücken, kauft in cool wirkenden Boutiquen Gewand oder besucht Kulinarikspezialisten. Auf Touristen warten schicke Boutique-Hotels. Der Kauf sexueller Dienstleistungen ist seit 2016 in Frankreich verboten.

Aber natürlich spielt man sich hier immer noch mit der Vergangenheit – eine Cocktailbar, die tropische Tiki-Drinks serviert, nennt sich Dirty Dick. Während die schon etwas gesetzteren Menschen hier einkehren, stellen sich die einheimischen Kids beim Moulin Rouge an. Aber nicht, um sich eine der glitzernden Revuen anzusehen – das ist was für die Auswärtigen. Die jungen Menschen aus Paris gehen lieber in den Heizraum. Dort legen DJs auf.

 Hier frönten Künstler dem Absinth oder ließen sich von Can-Can-Tänzerinnen im Moulin Rouge inspirieren oder begeistern. Toulouse-Lautrec, Picasso oder van Gogh lebten hier um 1900. Jahrelang war das Viertel um den Place Pigalle eines der verruchtesten in Paris.  Sex-Shops und Stripclubs gab es viele, Staßenprostituierte warteten auf Freier. Heute kommen die Jungen hierher, die Gegend gilt mit lässigen Bars, stylischen Hotels und gut besuchten Clubs als angesagt.  Zu den Revuen in Moulin Rouge strömen heute noch die Touristen, im Heizungskeller des Lokals steigen Partys für die Jugend.

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Auch in Wien sind vormals zur Anbahnung beliebte Straßenzüge heute ein Fixpunkt für Touristen – auch wenn hier von der liederlichen Vergangenheit kaum mehr etwas zeugt. Am Graben und in den Gässchen rund um die Kärntner Straße warteten die Straßenprostituierten. Und der Spittelberg, von dem vor Jahrzehnten ausgehend der ganze Bezirk Neubau auf einmal cool wurde, war mehrere hundert Jahre ein übel beleumundeter Amüsierbezirk. Auch Kaiser Joseph II. soll sich inkognito ins Geschehen geschmissen und Prostituierte besucht haben. Der als sparsam bekannte Monarch soll sich hier geweigert haben, den ausgemachten Preis zu bezahlen. Heute erinnert eine Tafel im ehemaligen Gasthaus zum sechsbeinigen Löwen an das sensationelle Ereignis. „Aus diesem Thor im Bogen ist Kaiser Joseph II. geflogen.“

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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