Von Füssen nach Meran: Einmal im Leben die Alpen überqueren
Die Berge, in Jahrmillionen entstanden, üben eine magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Auf ihren Pfaden wandern, ihre Gipfel erklimmen und ein Stück ihrer Erhabenheit spüren
Von Christiane Flechtner
Kuhglockenläuten klingt durch die Landschaft und vermischt sich mit dem fernen Pfeifen der Murmeltiere. Die Luft ist kühl und klar, der Blick schweift hinüber zum Aggenstein – jenem fast 2.000 Meter hohen Gipfel, der zu den Tannheimer Bergen gehört und erhaben wie ein Wächter gleichermaßen über Österreich und Deutschland thront.
Es ist der erste Tag der einwöchigen Alpenüberquerung, die im Kurort Füssen im Allgäu ihren Anfang nimmt und im Südtiroler Meran endet. Und es ist eine Route, die – anders als die berühmte E5 von Oberstdorf nach Meran – noch nicht so bekannt ist. "Natürlich können wir nicht wirklich in einer Woche die Alpen zu Fuß überqueren", sagt Guide Torsten Schütze. Aber es gelte, einige besonders delikate Häppchen vom Kuchen zu probieren. "Von der vergletscherten Hochgebirgslandschaft bis zu saftigen Tälern ist alles dabei."
Der erste Tag beginnt gemütlich – auf den gepolsterten Sitzen der Breitenbergbahn von der Talstation in Pfronten hinauf auf knapp 1.500 Höhenmeter. Es wartet ein wahres Postkartenallgäu, kratzen die Gipfel wie selbstverständlich am tiefblauen Himmel. Die Wanderschuhe fest geschnürt, führt der Weg durch Alpenwiesen, deren bunte Tupfer aus gelbem Enzian, blauem Eisenhut und der pinken Gewimperten Alpenrose um die Wette leuchten.
Schon bald ist der "Böse Tritt" erreicht, ein schmaler, steiler Bergpfad, der sich in Serpentinen durch die Landschaft schlängelt. Auf dem Sattel weist ein Grenzstein darauf hin: Ab hier ist Österreich. Und schon ist der Steinbau der Bad Kissinger Hütte am Fuße des Aggensteins zu sehen. Kurze Pause, schon geht’s weiter: Der Gräner Höhenweg zieht sich durch die Landschaft. Rechts der Blick ins Tannheimer Tal und den Vilsalpsee im Hintergrund – darüber die Lechtaler Alpen. Am Ende dieser Tagesetappe wird es nochmal sportlich beim Anstieg zur Sonnenalm und dem Füssener Jöchle. Dann geht es mit der Gondel ins Tal.
Es ist morgens, neun Uhr, und es nieselt – obwohl dieser Tag der schönste der ganzen Woche sein soll. So hält sich die Motivation in Grenzen. Siebenhundertfünfzig Höhenmeter gilt es zu bezwingen. Im Mini-Ort Bichlbächle ragen die Berge wie ein grüner Teppich auf. Weit oben das Sommerbergjöchle auf knapp über 2.000 Höhenmetern und das erste Ziel.
Der Weg dorthin führt in kleinen Serpentinenpfaden bergauf zuerst durch den Wald, dann über nasse Wiesen. Die nächsten dreihundert Höhenmeter werden zu einer wahren Rutschpartie: Das gute Profil der Schuhe beginnt den Kampf mit dem Matsch – und verliert. Hosen, Hände und Wanderschuhe nehmen den gleichen grau-beigen Farbton an wie der feuchte Untergrund. Mittlerweile regnet es in Strömen und es wird auch noch windig.
Das Prasseln des Regens auf der Kapuze mischt sich mit dem Heulen der starken Böen. Rechts eine schroffe Felswand mit Geröllstreifen, vor uns der geschwungene Sattel, der nach knapp zwei Stunden erreicht wird. Erleichterung macht sich breit. Zwar immer noch sehr windig, klart es auf – und man wird mit einem grandiosen Panorama mit Zugspitzblick belohnt. Deutschlands höchster Berg ragt grau und schroff aus dem Wettersteingebirge in den Himmel.
Die rund siebenhundertzwanzig Höhenmeter hinab ins Tal sind nicht weniger beschwerlich. Der Boden ist auch hier durch den vielen Regen rutschig, matschig und von den Kühen ausgetreten. Dennoch – die Sonne scheint – und das hebt die Stimmung. Rechts bahnt sich der Gartnertalbach rauschend seinen Weg. Man wandert auf schmalen, knorrigen Waldwegen, immer das Plätschern des kleinen Flusses im Ohr.
Geschafft – es wartet eine Nacht im Klostergut Kronburg oberhalb von Zams. Schwester Barbara nimmt die Gäste in Empfang. Dieser Ort ist besonders – nicht nur, weil das Klostergut als Wallfahrtsort eine beachtliche Geschichte hat, sondern auch, weil die Gastfreundschaft der Barmherzigen Schwestern von Zams, die das Klostergut seit 2005 besitzen und führen, so speziell ist. "Die Kronburg ist Kraftplatz, Begegnungsraum und Einkehr. Von diesem Ort geht ein besonderer Frieden aus", sagt die 68-Jährige.
Ab durchs Kaunertal
Ein neuer Tag, eine neue Wanderung: Es liegen etwa fünfzehn Kilometer Strecke und knapp tausend Höhenmeter auf- und abwärts durch das Kaunertal vor den Wanderern. Anfangs führt der Weg auf schmalen Pfaden durch den Wald. Es ist von der regnerischen Nacht noch feucht und neblig. Kurz nach der Aifner Alm wird der Weg steil und anspruchsvoll. Den einen bleibt der Atem hier schon weg, den anderen dann auf dem Panoramaweg – die Aussicht auf 2.000 Höhenmetern ist grandios.
Von hier blickt man auf das Inntal mit der Samnaungruppe im Hintergrund. Kein Straßenlärm dringt nach oben. Man hört nur den Wind, wenn er an einem Felsvorsprung um die Ecke weht. Das Sausen vermischt sich mit den Geräuschen beim Wandern, denn bei jedem Schritt schleift die Wanderhose an Büscheln des Alpenwacholder und den Heidekrautpflanzen entlang. In diesem gleichmäßigen Rhythmus verschwimmt die Zeit.
Je weiter man in Richtung Süden wandert, desto näher kommt man dem Kaunertal, das sich vor einem öffnet. Und dann geben die schweren Wolken den Blick auf den Gepatsch-Gletscher frei, der seit Jahrtausenden die Landschaft gestaltet und prägt. Auch von Weitem sieht man seine eisige Struktur aus Rinnen und Furchen. Der Weg führt schließlich in kleinen Serpentinen bergab, die Falkaunsalm ist in Sicht. Ein Kaiserschmarrn zum Abschluss – so kann eine Wanderung enden.
Infos
Alpenüberquerungen
Juni bis Okt., da die Wege dann meist schneefrei sind
Reiseveranstalter
Die geführte 8-tägige Wanderreise mit Gepäcktransport ist ein guter Einstieg in die Alpen. Die Gruppen sind zw. acht und 15 P. groß, geschlafen wird in Hotels. Buchbar ab 1.545 € bei Wikinger Reisen. wikinger-reisen.de
Hüttentipps
– Bad Kissinger Hütte
– Falkausalm im Kaunertal mit selbst gemachtem Käse
Stiller Zeitzeuge
Die Zeiger der Kirchturmuhr sind abmontiert und die Zeit scheint stillzustehen. Sie ist stehen geblieben an dem Tag, als eine kleine Stadt und mit ihr die Hoffnungen, Träume und Wünsche der Menschen in den Fluten versanken. Der Kirchturm des kleinen Städtchens Graun ragt als stilles Mahnmal aus dem türkisfarbenen Wasser des Reschensees. Der Bau eines Staudamms war es, der alles veränderte – im Sommer 1950 wurde der Ort trotz großem Protest überflutet. Menschen verließen ihre Heimat – nur der Kirchturm ist geblieben. Auf dem Höhenweg bieten sich immer wieder besondere Blicke auf den See, der nun hellblau hinaufglitzert.
Die letzte Wanderung steht an: Nach einer langen Autofahrt über achtundvierzig Kehren erreichen wir das Stilfser Joch – jenen Gebirgspass, der Bormio im Veltin in der Lombardei mit dem Südtiroler Prad im Vinschgau verbindet. Das Stilfser Joch ist mit einer Höhe von 2.757 Metern der höchste durch eine asphaltierte Straße erschlossene Gebirgspass in Italien. Auf Höhe der Dreisprachenspitze treffen sich noch heute drei Kulturen. Doch bis 1918 war dieser Gipfel nicht nur Treffpunkt dreier Sprachen, sondern auch Grenzpunkt dreier Nationen.
Es ist eisige drei Grad kalt, und der Nebel versperrt die Sicht auf die Ortler-Gruppe mit ihren weißen Gletschern. Der Weg führt an einer Häuserruine vorbei, die nur schemenhaft zu sehen ist. Kaum zu glauben, dass hier oben in dieser wunderschönen Naturkulisse an der sogenannten Ortlerfront schon vor dem Ersten Weltkrieg Kriegsvorbereitungen getroffen wurden. Es wurde ein Munitionsmagazin installiert und der Kamm mit Geschütz- und Maschinengewehrständen und den dazugehörigen Infanteriestellungen und Unterkünften befestigt.
Alpine Kriegswunden
Als der Krieg ausbrach, standen die Schweizer plötzlich zwischen den Feuerblasen zweier verfeindeter Nationen – Österreich und Italien. Auf dem Goldseeweg stößt man auf weitere Ruinen entlang der ehemaligen Verteidigungslinie der Österreicher, die den Einmarsch fremder Truppen verhindern sollte. Wenn auch dem einzelnen Soldaten der Kampf in dreitausend Meter Höhe sinnlos erschien, galt es doch für Italien, die südlichen Alpengletscher und so die Wasserressourcen und Alpenübergänge zu sichern.
Die Österreicher ihrerseits verteidigten ihre Heimat. Wie sinnlos all das jetzt erscheint – in einer Landschaft, die so friedlich ist. Nach einigen Kilometern gibt der Nebel den Blick auf die Ortlergruppe frei – mit ihren wuchtigen Gletschern und Felsen. Weiter unten kann man Murmeltiere auf einer Wiese beobachten und zum Abschluss gibt es einen guten Kaffee auf der Vinschgauer Furkelhütte. Dann bringt ein Bus in die zweitgrößte Stadt Südtirols – Meran ist das Ziel dieser Reise.
Guide Torsten lässt die Tour Revue passieren: "Wir haben in den Allgäuer Alpen begonnen und sind ins Lechtal gewandert, haben dann ein Stück der Ötztaler Alpen durchwandert und dann noch die Sesvenna-Gruppe erkundet." Mit all der Erhabenheit der Berglandschaft, die man hautnah erleben durfte, schwingt ein ganzes Stück Demut mit. Man war schließlich dem Himmel ganz nah. Und das Naturwunder Alpen hat noch so viel mehr Geheimnisse preiszugeben. Man muss sich nur auf den Weg machen.
Kommentare