Frauen sind deutlich häufiger von Funktionsstörungen des Kiefers betroffen als Männer.

Wenn der Kiefer Krach macht: Wie riskant sind Selbstbehandlungen?

Kiefer-, Kopf- und Nackenbeschwerden haben in den letzten Jahren rapide zugenommen. Im Netz trenden alternative Behandlungsformen. Was dahinter steckt.

Rund 15 Prozent der Bevölkerung knirschen beim Schlafen mit den Zähnen. Besonders häufig tun das junge Menschen. Neben der störenden Geräuschkulisse hat das vor allem gesundheitliche Folgen. „Wenn Sie in der Nacht mit den Zähnen knirschen, schädigen Sie das Gelenk“, erklärt Martina Schmid-Schwap, Leiterin der Spezialambulanz für Funktionsstörungen der Zahnklinik Wien. Wird nichts unternommen – etwa mit einer Schienentherapie – „werden die Zähne immer weniger oder die Gelenksymptome immer mehr“.

Denn durch den starken Druck beim Knirschen kann die Gelenkscheibe verrutschen. Häufig führt das zu einer Funktionsstörung des Kiefergelenks, die als Cranio-Mandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet wird. Klassische Symptome sind Schmerzen in der Kiefermuskulatur und den Gelenken oder Gelenksgeräusche, oft auch in Verbindung mit Nackenproblemen. In die Wiener Spezialambulanz kommen aber auch Menschen mit Ohrenschmerzen, Schwindel oder Bewegungseinschränkungen: „Das kann akut so weit gehen, dass die Patienten den Mund fast gar nicht aufbekommen.“

Mehr Frauen betroffen

Zwar zählt CMD zu den häufigsten Problemen in der Zahnmedizin. Dennoch war die Krankheit in der Öffentlichkeit viele Jahre weitgehend unbekannt. „In meinen Anfängen in den 90er-Jahren habe ich eine Patientin gehabt, die zwölf Jahre im Kreis gegangen ist, bevor sie zu mir kam“, erinnert sich Schmid-Schwap. Heute kommen immer öfter Überweisungen von HNO-Ärztinnen oder Kieferorthopäden – etwa zur Vorabklärung für Zahnspangen.

Martina Schmid-Schwap leitet die Spezialambulanz in Wien.

©Universitätszahnklinik Medizinische Universität Wien

Eine Erhebung, wie viele Menschen in Österreich von CMD betroffen sind, gibt es dennoch nicht. Insgesamt sind rund zwei Drittel der Patienten Frauen. Dafür gibt es mehrere Theorien: Muskuläre Strukturen, Hormone oder ein anderes Schmerzempfinden könnten eine Rolle spielen. Auch psychische Belastungen, etwa ein großer Mental Load und höhere Stresswerte bei Frauen sind mögliche Ursachen. Aber auch bei Männern führe massiver Stress zu einem höheren Risiko: „Patienten, die Ängste oder Depressionen haben oder dazu tendieren, alles besonders schwer zu nehmen, haben auch häufig eine schwerere CMD-Symptomatik.“ Die Chancen auf Besserung sind aber meist gut. Je früher die Behandlung einsetzt, desto eher könne man von Heilung sprechen.

Das Internet sei dabei in vielerlei Hinsicht ein Verbündeter: „Heute kommen immer mehr Leute zu mir, die CMD schon vorab recherchiert haben.“ Doch auch Anleitungen zur Selbstbehandlung – unter anderem aus ästhetischen Gründen – finden sie dort. „Eine Zeit lang gab es eine Tendenz, dass Menschen versucht haben, ständig aktiv zuzubeißen. Dadurch haben sie zwar deutlichere Kieferwinkel bekommen, sind aber zunehmend mit Beschwerden gekommen.“

Gefährliche Trends

Seit einigen Jahren sorgt allerdings „Mewing“, eine Technik der Kieferorthopäden John und Mike Mew, für Aufsehen. Hier laufen Nachahmende Gefahr, mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Denn anstatt einer normalen Ruheposition, in der die Lippen geschlossen sind und der Unterkiefer locker hängt, wird bei Mewing die Zunge konstant gegen den Gaumen gepresst. Entgegen der Anleitung (siehe oben) sollten auch die Zähne „definitiv nicht im Kontakt sein“, warnt die Expertin. „So kann die Kaumuskulatur ja gar nicht entspannt sein.“

Ihre Sorge: Empfindliche Menschen könnten so bereits erste CMD-Symptome entwickeln. „Ich finde es verrückt, dass man versucht, seine Gesichtsform über Muskelaktivität zu verändern. Zum Glück schaut jeder Mensch anders aus.“ Schließlich könne man mit der gleichen Zahnspange auch nicht jedem Menschen dasselbe Lächeln verpassen.

Elisabeth Kröpfl

Über Elisabeth Kröpfl

Seit Dezember 2021 beim KURIER. Zuerst im Ressort Lebensart, jetzt am Newsdesk. Spanisch- und Englischstudium in Graz, danach Journalismus-Master an der FHWien.

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