Seilers Gehen: Von der Wollzeile bis zum Esteplatz

In Wien finden sich viele Denkmäler. Ein bekanntes ist das am Luegerplatz.

Ich gehe durch die Wollzeile, wo mir auffällt, dass das Restaurant für gesunde Ernährung neben der Öfferl-Bäckerei zugesperrt hat. Ich gehe über den Luegerplatz, wo ich gar keine andere Möglichkeit habe, als die gigantische Hochschaubahn aus buntem Holz in Augenschein zu nehmen, die das beschmierte und mit Farbe überschüttete Denkmal des Wiener Bürgermeisters (im Amt 1897 bis 1910) kontextualisiert. Die Kontextualisierung finde ich gut und notwendig, schließlich ist Lueger jener Politiker, bei dem der junge Hitler Antisemitismus studiert hat.

Allerdings muss ich zugeben, dass mir die Form dieser Kontextualisierung erst einleuchtet, seit sie mit einem Beipacktext versehen wurde. Dieser klärt mich darüber auf, dass die Installation „Lueger Temporär“ von Nicole Six und Paul Petritsch sämtliche Denkmäler und Ehrentafeln, die Lueger in Wien errichtet wurden, in „maßstabsgetreuen, fragmenthaften Umrissen“ in dem symbolisierten „Schaulager“ aus Sperrholz zusammenfasse und damit auch jene Denkmäler in den gewünschten Kontext setze, die bis heute völlig unkommentiert an allen möglichen Stellen Wiens herumstehen. Insgesamt sind laut Zählung von Six-Petritsch sechzehn – dreizehn davon unkommentiert. 
 

Das setzt die mächtige Installation, deren didaktisches Ziel ich zuerst nicht wirklich durchschaut hatte, in ein neues Licht. Ich hoffe übrigens, dass die permanente Gestaltung des Denkmals, wenn „Lueger temporär“ im September wieder abgebaut wird, ebenso beherzt in Angriff genommen wird (und empfehle die Lösung von Steinbrener-Dempf-Huber, die den mächtigen Lueger um die Hälfte schrumpfen und verloren auf dem noch immer mächtigen Sockel herumstehen lassen möchten). Ich gehe geradeaus weiter, über die Stubenbrücke, wo mir die Franz-West-Lemuren noch immer fehlen, an der Mall Wien Mitte vorbei, die Landstraßer Hauptstraße entlang, wo gegenüber einer neuen Öfferl-Bäckerei ein Restaurant für gesundes Essen zugesperrt hat, biege schließlich in die Weyrgasse ein und schlendere zum Esteplatz hinunter, wo mich erstaunliche Farben und Formen willkommen heißen.

In dem Grünstreifen, der zwischen den ockergelben Prachthäusern des Esteplatzes angelegt ist, stehen nicht weniger als fünf Objekte von Franz West, eigenwillige, sich nach unten verjüngende Skulpturen, die man aus der Distanz mit Windhosen verwechseln könnte, wenn Windhosen, rosa, smaragdgrün, signalgrün, sonnenblumengelb oder hautfarben wären. Höflich nähere ich mich neuen Bewohnern dieser Nachbarschaft, begrüße sie einzeln und freue mich, dass das Wirken des Meisters, dessen Atelier sich hier befunden hatte, so spektakulär sichtbar wird. West selbst sagte: „Mit den Außenskulpturen wollte ich den Geschmack der Natur verletzen, wurde dann aber selbst mitgerissen von etwas, was ich auf einmal als Schönheit empfand.“ Ich empfinde die Ankunft dieser Schönheiten als ausgleichende Gerechtigkeit für das Verschwinden der Lemuren auf der Stubenbrücke. Statt vier (Lemuren) sind es übrigens jetzt fünf (Windhosen). Kultureller Klimawandel: Sie vermehren sich.

Christian Seiler

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