Vom Praterstern zum Donaukanal und auf Vorrat staunen

Ein Spaziergang mit Viadukten, einem ehemaligen Bordell und Wiens bestem Markt.

Ich streife durch den zweiten Bezirk, vom Praterstern kommend. Interessant, dass die teuren Veränderungen am großen Bahnhofsplatz die Stimmung nicht verändert haben. So richtig cosy wird dieser Ort in diesem Leben wohl nicht mehr.

Ich betrachte die alten, gemauerten Viadukte, über die Schnellbahnen und Cityliner vom ästhetisch so gelungenen Bahnhof „Praterstern“ Richtung Wien Mitte rumpeln und bin noch immer ein bisschen verstört, dass sie in wenigen Jahren abgerissen und durch eine neue Trasse ersetzt werden sollen. Das wird das Ende der merkwürdigen Autowerkstätten mit eingemauerten VW-Käfer-Hälften sein, auch das Ende der schummrigen Ecken, wo Mechaniker und Taxifahrer an Sommerabenden Tee trinken oder Bier. Mein Tipp: auf jeden Fall nochmal durch die Helenengasse schlendern – und auf Vorrat staunen.

Ich mache mich in die andere Richtung auf, tauche in das Gassengeflecht zwischen Heine- und Praterstraße ein, die unmögliche Namen tragen wie Kleine oder Große Mohrengasse, und an der Ecke Zirkusgasse/Novaragasse stehe ich plötzlich vor den verschlossenen Türen des Cabaret Renz, wie einmal eine Rotlicht-Institution des Leopoldstädter Nachtlebens hieß. Das Renz, auch so ein vergänglicher Ort. Es war einmal ein Bordell, das nur oberflächlich als Revuetheater maskiert war, machte Geschäfte, ging pleite, auferstand als Szeneschuppen mit elektronischer Musik und tanzendem Partyvolk, auch das wollte auf Dauer nicht funktionieren.

©Klobouk Alexandra

Ich erinnere mich an eine Lesung der formidablen Kollegin Polly Adler von Seite 20, die in der Zwischennutzung stattfand, dann gab es Gerüchte, dass der großartige Juan Amador, Österreichs einziger Dreisternekoch, einziehen wollte, es sich erst im letzten Augenblick anders überlegte und sich für Döbling entschied, wo er seither segensreich wirkt.

Ein Strizzi aus dem Renz

Zuletzt fiel mir der charakteristische Schriftzug des Renz in einem Comicabenteuer auf, für das sich der Zeichner Roland Putzker, Ostbahn-Kurtologen vertraut als Zeichner diverser Plattencover, und der Autor Ferdinand Rieder („Columbus“) zusammengetan haben. Der Band heißt „Zehn Punkte für Uganda“ und erzählt auf berührende und unterhaltsame Weise die Geschichte einer Revolution in Afrika, die im Weinviertel ihren Ausgang nimmt, den Ostbahn-Kurti auftreten lässt – und einen Strizzi aus dem Renz, der gleichermaßen über Schmäh und Brutalität verfügt. Das dürfte der Vergangenheit des Ortes durchaus angemessen sein.

Traumverloren gehe ich weiter, schlendere über den Karmelitermarkt, der unter der Woche ein völlig anderer Ort ist als am Samstagvormittag, wenn er frühmorgens zu Wiens bestem Markt mutiert. Ich gehe auf der Hollandstraße zum Donaukanal, nehme die Stiegen hinunter zum Kanal und besorge mir bei einer der Tränken eine Flasche Wasser, die ich in der Frühlingssonne dankbar verzehre.

Und ich erinnere mich: Auch der Donaukanal hat sich verändert, vom stumpfen, unbelebten Hundeauslaufplatz zur Schlagader des hedonistischen Lebens dieser Stadt. Eine Verwandlung, für die ich mehr als dankbar bin.

Die Route

Praterstern – Heinestrasse – Zirkusgasse – Rotensterngasse – Haidgasse – Karmelitermarkt – Hollandstrasse – Donaukanal: 3.500 Schritte

Christian Seiler

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