Seilers Gehen: Zu Fuß von Ottakring nach Breitensee
Was Christian Seiler bei seinem Spaziergang sieht und erlebt.
Ich gehe von Ottakring nach Breitensee, und auch wenn das nach gutem, alten Wien klingt, muss ich dieses gute, alte Wien mit der Lupe suchen, während ich vom Bahnhof Ottakring über die Huttengasse Richtung 14. Bezirk stapfe, der hier ohne Stoßdämpfer direkt an den 16. grenzt. Ein riesiges Parkhaus, Wohnblöcke, in einem höchst unscheinbaren Nachkriegshaus die Botschaft der „Islamischen Republik Afghanistan“. Auch das Vorstadthaus in der Kendlerstraße, in dem vielleicht einmal eine Schmiede domiziliert war – so deute ich als Nebenerwerbs-Sherlock jedenfalls den Namen des jetzt hier ansässigen Wirtshauses „Zur Alten Schmiede“ –, hat maximal noch ein bisschen Restcharme zu bieten zwischen all den Gebrauchsarchitekturen.
Das ändert sich erst auf dem Laurentiusplatz, wo die Breitenseer Pfarrkirche steht, ein neugotischer Ziegelbau, einem römischen Diakon aus dem dritten Jahrhundert geweiht und mit eindrucksvollen Glasmalereien ausgestattet, die ich natürlich ausführlich begutachte. Neben der Kirche stehen Hochbeete, die beschattet werden von einer sogenannten „Schubert-Linde“, die wiederum der Wiener Männergesangsverein und der Breitenseer Männerchor 1928 pflanzten, zum 100. Todestag des vielleicht größten unter den Wiener Komponisten.
Ich gehe die so entzückende wie geschichtsträchtige Breitenseer Straße nur ein kleines Stück entlang, betrachte die Schaukästen der Breitenseer Lichtspiele, deren Historie noch länger zurückreicht als jene der Schubertlinde – 1905 als Zeltkino gegründet, seit 1909 fix positioniert an der Adresse Breitenseer Straße 21 –, und kehre im gegenüberliegenden Café Anna & Jagetsberger ein, wo ich knapp vor drei noch etwas Anständiges zu essen bekomme und mit Blick aufs Kino meinen Gedanken nachhängen kann.
Natürlich ist Breitensee nicht zu trennen von seinem größten Sohn, dem Dichter H.C. Artmann, der hier 1921, sieben Jahre vor der Pflanzung der Schubert-Linde, das Licht der Welt erblickte. Ihm ist ein paar Gassen weiter der nach ihm benannte Park gewidmet, und ich muss unwillkürlich an Artmanns bekanntestes Werk „med ana schwoazzn dintn“ denken – „gedichta r aus bradnsee“. Wir wissen ja, was Artmann darin fordert: „nua ka schmoez how e xogt! nua ka schmoez net … reis s ausse dei heazz dei bluadex und haus s owe iwa r a bruknglanda!“.
Wer das nicht auf den ersten Blick versteht, muss es halt laut lesen, dann ist es da, das Bradnseeerische, das Poetische, und ich mache mich jetzt zwar auf den Weg, um durch Penzing zu gehen, aber beflügelt bin ich von Artmanns musikalischen Versen, die für immer mit diesem Grätzel verbunden sein werden. Ich gehe auf der Kendlerstraße zum Bahnhof Breitensee, über die Hütteldorfer Straße und Matznergasse zum Matznerpark, über Ameisbrücke, Ameisgasse und Penzinger Straße zur Astgasse, wo ich im Goethegymnasium vor 250 Jahre meine Matura gemacht habe und mich frage, wann es endlich eine H.C. Artmann-Schule geben wird, bevor ich schließlich in Unter St. Veit in die U4 steige und stadteinwärts entschwinde.
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