Seilers Gehen: Mehr Paläste für Kinder

Vom Währinger Gürtel über die Canisiusgasse und Lustkandlgasse bis zur Ayrenhoffgasse: 1.400 Schritte

Ich streife durch den neunten Bezirk, vom Währinger Gürtel die Canisiusgasse stadteinwärts über den Himmelpfortgrund. Ich schaue mir die historistische Canisiuskirche an, deren 85 Meter hohe Türme sie immerhin zur vierthöchsten Kirche der Stadt machen, und bin ein bisschen beeindruckt von der Vielfalt der Gemeinden, deren Seelsorge hier besorgt wird: der afrikanisch-frankophonen, der japanischen, brasilianischen und indonesischen.

©Klobouk Alexandra

Weil ich in der Laune für Umwege bin, gehe ich jetzt ein Stück die Lustkandlgasse entlang, biege in die Pulverturmgasse ein, vorbei am Helene-Deutsch-Park, dann in die Sobieskigasse, bis ich an der Ecke Ayrenhoffgasse plötzlich stehen bleibe, weil ich unter einem Vordach die Aufschrift „Anfahrt für Infektionskranke“ entdeckt habe.
Diese Anfahrt ist zugemauert, aber sie erzählt eine Geschichte. Das hübsche Gebäude beherbergte bis 1977 das Karolinen-Kinderspital, das im 19. Jahrhundert von der Hausbesitzerin Karoline Riedl gestiftet worden war. Der Infektionspavillon entstand in den Zwanzigerjahren, als in unmittelbarer Nachbarschaft, Ecke Ayrenhoffgasse/Lustkandlgasse die „Kinderübernahmestelle“ gebaut wurde, zu der ich jetzt weitergehe.

Das Gebäude ist eindrucksvoll und massiv. Der von Säulen umgebene Eingang befindet sich in einem durch zwölf hochformatige Fenster gegliederten Vorbau. Dahinter türmen sich symmetrisch übereinander geschachtelt die Flügel der „Kinderübernahmestelle“ auf, in die inzwischen längst eine Volkshochschule eingezogen ist. Links neben dem Eingang hängt eine Steintafel mit einem Zitat von Julius Tandler (1869–1936), dem Arzt und Politiker, auf dessen Initiative das Haus gebaut worden ist: „WER KINDERN PALÄSTE BAUT, REISST KERKERMAUERN NIEDER“. Ein großes, bewundernswertes Versprechen.

In der Tat diente das Haus dem „Roten Wien“ als Unterbringungsstätte für Kinder, deren Obsorge die Gemeinde übernommen hatte, um deren soziale und gesundheitliche Situation zu verbessern. Die Kinderübernahmestelle galt in ganz Europa als vorbildliche Einrichtung. Aber eine weitere Tafel klärt über Schattenseiten der Wiener Jugendwohlfahrt auf, die erst viel später bekannt wurden. „Von diesem Standort der ehemaligen Kinderübernahmestelle wurden Kinder in Heime und Pflegefamilien gebracht, in denen sie erschütternden alltäglichen Erziehungspraktiken und institutioneller Gewalt ausgesetzt waren“, steht auf der Gedenktafel.

Tatsache ist, dass in der Kinderübernahmestelle vieles im Argen lag, viele Kinder wegen Besuchsverboten einsam waren und von ungeeigneten Erziehern missbraucht wurden. Nach der Machtübernahme der Nazis wurden geistig und körperlich behinderte Kinder von hier an den Spiegelgrund überstellt. Die meisten von ihnen wurden dort ermordet. Über dem Eingang in die heutige Volkshochschule hängt ein kreisrundes Relief, das einen in Windeln gewickelten Säugling zeigt. Mich schaudert, wie nahe die besten Vorsätze und die grausamsten Verfehlungen einander hier gekommen sind.

Die Route

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Christian Seiler

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