Begegnung mit Mausebär in Berlin

Vom Reichstag aus 9.000 Schritte zu einer gelungenen Begegnung am Nachmittag.

Ich stehe an einem besonderen Ort im Zentrum Berlins. Ein paar hundert Meter entfernt befindet sich der Reichstag mit seiner großartigen, begehbaren Kuppel, die sich der Architekt Norman Foster ausgedacht hat. Davor das Brandenburger Tor, wo sich die Touristen drängen und die Hop-on-Hop-off-Busse paradieren, rund um mich aber Ruhe.

Vor mir streckt sich das von Peter Eisenman gestaltete „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ aus, eine 19.000 Quadratmeter große Landschaft aus 2.711 Betonquadern unterschiedlicher Höhe, die in Summe eine beklemmende Landschaft aller möglichen Assoziationen ergibt.

Auf dem Areal stand vor dem Zweiten Weltkrieg die Stadtvilla von Joseph Goebbels samt dazugehörigem Bunker. Zwischen 1961 und 1989 befand sich hier der sogenannte „Todesstreifen“ östlich der Berliner Mauer, den die Scharfschützen der DDR immer im Blick hatten, um die „Republikflucht“ ihrer Bürger zu verhindern, notfalls mit scharfer Munition.

©Klobouk Alexandra

Tierisches Erholungsgebiet

Jede Stadt steht auf den Scherben ihrer Geschichte, aber in Berlin sind diese Scherben besonders spitz. Vielleicht zieht es mich auch deshalb von meinem Standort im Zentrum greller, historischer Zusammenhänge über die Ebertstraße in den „Großen Tiergarten“, dessen Dimension von 210 Hektar einen lohnenden Ausflug in innerstädtische Natur verspricht. Ehemals ein fürstliches Jagdrevier, erlebte der Berliner Tiergarten kultivierte Veränderungen, die ihn zu dem Erholungsgebiet machten, der er heute ist, ein englischer Landschaftsgarten mit hohem Waldanteil und allgegenwärtigen Überraschungen – und damit meine ich nicht nur die Berlinerinnen und Berliner, die an den dafür am wenigsten geeigneten Stellen ihren Mittagsschlaf halten oder vergessen haben, etwas anzuziehen.

Einmal stoße ich auf ein klassizistisches Denkmal für Beethoven, Mozart und Haydn, einmal lausche ich einem viertelstündigen Glockenspiel, das vom Carillon beim „Haus der Kulturen der Welt“ – Spitzname: „Schwangere Auster“ – über die „Straße des 17. Juni“ hinüberschallt, die den Tiergarten durchschneidet. Dann tauche ich wieder in die Rhododendrenlandschaften ein, die das „Tiergartengewässer“ flankieren.

Als ich mich dem „Neuen See“ nähere, fällt mein Blick durch eine breite Allee auf die Siegessäule. Die goldene Viktoria, die das 67 Meter hohe Denkmal krönt, heißt im Volksmund Goldelse, sie soll an die deutschen Einigungskriege erinnern.

Ich muss aber an den fantastischen Bruno Ganz im Wim-Wenders-Film „Der Himmel über Berlin“ denken, wenn ich das Gold in der Nachmittagssonne glänzen sehe und an die Rede, die Barack Obama 2008 hier gehalten hat, bevor er im Jahr darauf zum Präsidenten gewählt wurde.

Ein Fahrrad überholt mich. „Mausebär“, sagt der Fahrer, und bevor ich denke, dass ich gemeint bin, sehe ich den alten, dicken Hund, der ihm folgt und definitiv nicht nach „Mausebär“ aussieht. „Komm schon“, sagt der Fahrer zu Mausebär, „gib alles.“ Mausebär überholt mich in Zeitlupe, und das ist ein schönes Bild für diesen gelungenen Nachmittag in Berlin.

Die Route

Ebertstrasse – Grosser Tiergarten – Grosser Stern – Neuer See – S-Bahn-Station Tiergarten: 9.000 Schritte

Christian Seiler

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