Eine Kirche, die man auf den ersten Blick übersieht

Ein Spaziergang von Westbahnstraße über die Neubaugasse zur Neustiftgasse.

Von der Westbahnstraße biege ich in die Neubaugasse ein, überquere die Burggasse und wandere die Neustiftgasse stadteinwärts. Es regnet. Ich suche Schutz in einem Geschäft, dessen Waren ich sehr genau kenne, das ich aber noch nie physisch aufgesucht habe. Es heißt Sous-Bois und handelt mit Schreibwaren. Die japanischen Notizbücher der Marke Midori sind für mich das Schönste und Eleganteste, was es auf dem einschlägigen Markt zu kaufen gibt, und weil leere Bücher für jede Autorin und jeden Autoren ein Versprechen, aber auch eine Forderung sind, habe ich einige davon in meinem Büro gestapelt, als Appell an mein Pflichtbewusstsein, aber auch als Raum für die vielen Ideen, die mir noch nicht zugeflogen sind. 

Ich kaufe also gar nichts ein, sondern fahre nur mit den Fingerkuppen über das geschmeidige MD-Papier, während eine elegante Dame sich mit der Verkäuferin über Collagetechniken unterhält. Aus dem Off höre ich, wie die Dame nach einem japanischen Café fragt, das sich angeblich in der Nähe befinde. Ja, antwortet die Verkäuferin, ein kleines Stück stadteinwärts, gegenüber der Mechitaristenkirche. Ich horche auf. Weder das japanische Café noch die Kirche mit dem komplizierten Namen sind mir ein Begriff. Ein wenig später verabschiede ich mich von den schönen Papieren und gehe unter meinem Schirm stadteinwärts. Erst jetzt, als ich aufmerksam die Fassaden betrachte, fällt mir das Kirchenportal auf, das schmalbrüstig zwischen zwei Gebäuden eingezwickt ist. Links das Haus, dessen Erdgeschoß das „Café Volkstheater“ belegt. Rechts der schauderhafte Anbau an das Palais Trautson, wo Büros des Justizministeriums untergebracht sind. Eine Freitreppe führt zum prachtvoll gearbeiteten Tor der Kirche, die ursprünglich den Kapuzinern gehört hat, aber 1810 den Mechitaristen zugesprochen wurde, die – vertrieben von den Franzosen – von Triest nach Wien gekommen waren.

 

©Klobouk Alexandra

Nach dem großen Brand in St. Ulrich wurde das Kloster vom berühmten Joseph Georg Kornhäusel neu geplant und Ende des 19. Jahrhunderts von Camillo Sitte im Stil der Neorenaissance renoviert.  Der Architekturführer erkennt eine schmale, hohe, „gänzlich gequaderte Fassade mit zwei Stumpftürmen und einachsigem, weit vortretendem Mittelrisalit (…) in der Art des oberitalienischen Quattrocento“.

Leider ist diese interessante Kirche geschlossen.  Ich muss zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen, um das Ölbild „Heilige Anna lehrt Maria lesen“ zu besichtigen. Weil ich aber schon da bin (und weil es immer noch regnet), mache ich Rast im japanischen Café namens „Mari’s Metcha Matcha“ – und werde auf angenehmste Weise überrascht. Nicht nur, dass der Grüne Tee alles hält, was Grüner Tee verspricht. Die in Wakameblätter eingeschlagenen Reissnacks namens Onigiri sind auch erstklassig, und das Mochi mit Erdbeeren, das ich mir zum Dessert gönne, ist flaumig und fein. Ganz hinten im Café entdecke ich die Dame, die sich für Collagetechniken interessiert. Ich nicke ihr freundlich zu. Sie nickt zurück, auch wenn sie nicht weiß, was ich ihr gerade zu verdanken habe.

Die Route

Westbahnstraße - Neubaugasse - Neustiftgasse: 2.000 Schritte

Christian Seiler

Über Christian Seiler

Kommentare