Seiler Gehen: Von Oberdöbling bis zur Althanstrasse

Christian Seiler begibt sich auf eine historische Tour von Döbling nach Alsergrund

Ich gehe durch Oberdöbling, am Gymnasium Billrothstraße vorbei, wo gerade der Unterricht zu Ende ist und Gruppen von jungen Leuten die Schule verlassen, manche noch Kinder, die ein bisschen zu lang geraten sind, andere schon mit so charaktervollen Zügen, dass ich in ihnen die Rechtsanwälte, Steuerberaterinnen oder Öffentlichkeitsbeauftragten der Jahre 2030 plus zu erkennen glaube. Im Tosen der Kreuzung Billrothstraße-Silbergasse überlege ich mir, wo ich weitergehen soll, und nehme mir vor, die Pfarrkirche Wien Döbling zu besichtigen, deren Turm ein bisschen kurz geraten scheint und dem Haus das Aussehen eines Tempels gibt. 
Neben dem Eingang sehe ich die Büste des Kardinals Theodor Innitzer. Innitzer ist eine umstrittene Persönlichkeit. Er sprach sich 1938 im Namen der Katholischen Kirche für den Anschluss Österreichs an Deutschland aus, ließ beim Besuch Hitlers in Wien die Glocken läuten und nannte den Aggressor einen „von Gott gesandten Führer“. Die „Feierliche Erklärung der österreichischen Bischöfe“, in der diese den Anschluss befürworteten, unterzeichnete Innitzer mit „Heil Hitler“ – ein schändliches Dokument der jüngeren österreichischen Geschichte. 

Den entsprechenden Kontext suche ich am Kardinal-Innitzer-Platz vergebens, auch wenn er bei der Untersuchung der HistorikerInnen-Kommission vor zehn Jahren als „Straßenname mit Diskussionsbedarf“ eingestuft wurde. Ich gehe weiter, durch die Vormosergasse zur Pyrkergasse, durch die Kreindlgasse bis zur Hardtgasse, gehobene Mittelstandsgegend, dann die Döblinger Hauptstraße bis fast zum Gürtel. Kurz davor biege ich noch in die Glatzgasse ein und komme, nachdem ich den Gürtel überquert habe, vor einem beeindruckenden Stadtbild zu stehen, wie es Wien immer wieder einmal anbietet. 

Im Vordergrund befindet sich einer der noch offenen Stadtbahnbögen, durch den ich auf den Vorbau des sog. „Volkswohnhauses“ aus den Jahren 1928 und 29 blicken kann. Dieser Vorbau markiert mit einem gewagten Spitzbogen den Eintritt in das Haus mit seinen 36 Wohnungen, aber wie sich das vom Architekten Leo Kammel sen. entworfene Gebäude in die Höhe streckt, ist außergewöhnlich. Dreieckige Erker wachsen am Vorbau in die Höhe und setzen dem First eine expressionistische Krone auf. Die Fenster sind vertieft in die Fassade gesetzt, an der Kante des Eckturms befinden sich kleine Balkone. Besonders fallen mir aber die beiden Darstellungen des Atlas auf, der knapp über dem Straßenniveau das Gewicht der Welt gleich zweimal tragen muss.

Natürlich haben sich in der Tiefe des Vorbaus auch ein paar Sprayer verwirklichen müssen, was der Exotik und der erstaunlichen Wirkung des Hauses aber keinen Abbruch tut.
 Lange bleibe ich vor dem Ensemble stehen und genieße die zueinander passenden Farbschattierungen, während hinter mir der Verkehr tobt und braust. Dann betrachte ich das „Volkswohnhaus“ noch ausgiebig aus der Nähe, bevor ich, jetzt im Neunten angekommen, in die Augasse einbiege und bis an die Flanke des Franz-Josefs-Bahnhofs, einem Monument der Siebzigerjahre-Ästhetik weitergehe. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal.

Christian Seiler

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