Im Prater durch ein Fenster spähen
Wo im Wiener Prater ein Wirtshaus auf seine Wiederentdeckung wartet.
Ich gehe durch den Prater, Jesuitenwiese, Hauptallee, Heustadlwasser, Lusthaus. Das ist das Paradoxe am ziellosen Gehen: auch wenn man kein Ziel hat, strebt man doch eines an, bewusst oder unbewusst. Jedes Paar Schuhe, das mit mir unterwegs ist, weiß das. Es trägt mich auf besagtem Weg, so dass ich nicht darüber nachdenken muss, wo ich hinwill, sondern mich mit anderen wichtigen Dingen beschäftigen kann, mit dem Flug der Krähen, dem Muster des Asphalts oder dem zauberhaften Auftreffen des Nieselregens auf meinen Wangen.
Beim Lusthaus angekommen freue ich mich, dass ich hier bin, und weil ich plötzlich Platz für ein bisschen Neugier habe, mache ich keine Runde ums Lusthaus wie die Jogger und gehe dann zurück, wie mir das meine Schuhe vorschlagen, sondern biege in die Rennbahnstraße ein. Der „Freude Now“-Kiosk hat zu, und auch auf den schlammigen Greens des Golfclubs tut sich nicht viel. Die „Gösser Bierinsel“ ist „vorübergehend geschlossen“, hoffen wir, dass dieses „vorübergehend“ keine Umschreibung für „bis auf Weiteres“ ist, die gängigste Übergangsformulierung zu „dauerhaft geschlossen“.
Ich gehe bis zum Tor, das die Rennbahnstraße von der Rennbahn trennt, spekuliere darauf, dass es vielleicht offen ist – und werde enttäuscht, wenn auch nicht sehr. Ich gehe nämlich den Zaun entlang weiter, um das schöne, sorgfältig mit Ziegelornamenten und Sichtbalken aus Holz ausgestattete Haus anzusehen, an dessen Längsseite eine schöne Veranda von Schatten und kühlen Getränken erzählt, und überhaupt kommt mir der Garten, wiewohl gerade trist und grau, vielversprechend vor, ich kann mir Wirtshaustische vorstellen und Gelächter und das Geklapper von Geschirr und den Duft nach frischem Apfelstrudel …
Das geborene Wirtshaus
„Geht schon wieder die Fantasie mit dir durch?“, fragen mich meine Schuhe, die bekanntlich eher sachliche Gemüter sind und eigentlich gern nach Hause gehen würden. „Nein“, sage ich. „Das hier ist das geborene Wirtshaus, das kann ich spüren.“ „Wir können es sogar sehen“, sagen die Schuhe, „weil an der Fassade hängt ein Wirtshausschild, du Intuitionswunder.“
Stimmt. Das Schild sagt „Rennbahn Restaurant“. Aber ein Restaurant ist das hier längst nicht mehr. Gegen den Rat meiner Schuhe steige ich über den niedrigen Zaun und werfe einen Blick ins Innere des Hauses. Vorbildlich mit Resopal belegte Tische sind übereinander gestapelt, ich erkenne Reste von mittelprächtigen Sitzecken, ein paar Deckenlampen hängen noch, ansonsten scheint alles, was man brauchen konnte, abtransportiert zu sein.
Was ich aber sehe, ist das Nachmittagslicht, wie es dicht und schwer durch die hohen Fenster, die tief in ihren Laibungen sitzen, ins Innere dieses wohlproportionierten Raums fällt und in mir die Sehnsucht weckt, mir hier irgendwann einen Tee bestellen zu können und irgendeiner Melodie aus dem Radio zuzuhören. „Wir bringen dich jetzt heim“, sagen die Schuhe, und das tun sie. Den Kanalwächterhausweg bis zum Gaswerksteg, von dort zur U3-Station, wo auch die schönsten Träume ein Ende haben.
Die Route
Jesuitenwiese – Heustadlwasser – Hauptallee – Rennbahnstrasse – Kanalwächterhausweg – Gaswerksteg – Erdbergstrasse – U3 Erdberg: 9.000 Schritte
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