Rosalia: Feuer & Flamme für den Flamenco

Männer wie Paco de Lucía oder Camarón de la Isla haben den Flamenco geprägt. Seit Rosalía die Bühne betrat, ist damit Schluss.

Nichts ist bewährt genug, um sich nicht zu erneuern. Der als erotischer Tanz angelegte Tango kommt gerne als kantiger Tango Nuevo daher. Und der mit ihm entfernt verwandte, eher verhaltene Flamenco zeigt sich als Nuevo Flamenco entfesselt wie nie. Besonders, wenn er so enthemmt auftritt wie sein neuestes Aushängeschild: Rosalía Vila Tobella.

Vor kurzem hat die 29-jährige Sängerin aus der katalanischen Provinz ihr drittes Album auf den Markt gebracht: „Motomami“ (Sony Music), eine Sammlung von Liedern, die den ab dem Mittelalter entstehenden Flamenco in Überschallgeschwindigkeit in die elektronische Gegenwart beamen.

Gitarren wie auch das traditionelle Klatschen wurden weitgehend von Samples und Synthesizern verdrängt. Rap hält Einzug in den jahrhundertealten Rhythmus der andalusischen Roma. Allein das Cover ist eine Provokation. Rosalía zeigt sich darauf nackt und nur mit einem Motorradhelm bekleidet. Die freizügigen Fotos im dazugehörigen Textheft tun ein Übriges, um den Sticker „Elterliche Beratung. Expliziter Inhalt“ zu rechtfertigen.

Show für die Stadien

Flamenco, der orientalisch anmutende „Blues“ der aus Indien und Afrika nach Spanien eingewanderten Volksgruppen, wurde stets gern im kleinen Rahmen ausgeübt und vorgetragen. Selbst dann, als Gitarrengott Paco de Lucía vor 40 Jahren mit Al Di Meola und John McLaughlin einen Welterfolg mit dem berühmten „Friday Night in San Francisco“-Konzert feierte. Damit ist es nun vorbei.

Rosalías „Motomami“ ist darauf angelegt, „die ganz großen Stadien zu füllen“, befindet die in Linz und in Jerez de la Frontera lebende Flamenco-Expertin Susanne Zellinger. Und weiter: „Das sorgt in der Flamenco-Community natürlich auch für Konflikte“. Spanische Roma warfen der aus dem Nordosten Spaniens stammenden Sängerin vor, sich ihrer Kultur bloß zu bedienen. Der Erfolg ist über diese Kritik erhaben: „Motomami“ schoss auf Spotify im Nu auf Platz eins der „Top Album Debut Global“-Charts vor. Nie zuvor wurde der sonst gern als Urlaubsfolklore verklärte Flamenco derart abgefeiert.

Dass die Sängerin auch den traditionellen Flamenco wie aus dem Effeff beherrscht, wird dabei oft vergessen. Hier ein Beispiel: "Di mi nombre", eine akustische Version des Hits aus ihrem Album "El Mal Querer" aus dem Jahr 2018.

Ob bei den MTV-Awards oder den Latin Grammys, Rosalía räumt derzeit ab, wo es nur geht. Und sie gibt, wo immer es geht, auch den Millionen Spanisch sprechenden Menschen in den USA eine Stimme.

Power-Girl im Männer-Magazin

US-Talkmaster Jimmy Fallon lud Rosalía in seine „Tonight Show“ und outete sich dort als ihr größter Fan. Zum Dank ließ sie das „R“ in ihrem Vornamen ausgiebig rollen und begeisterte das Publikum mit einer Lektion Musikunterricht im TikTok-Format. Der Beginn einer nächsten Berufung, wer weiß? Dabei ist ihre derzeitige Karriere noch ausbaufähig. Das Power-Girl posierte für das Cover des Männer-Magazins GQ. Ihr Album wurde sowohl von Fachblättern als auch der Branchenbibel „Rolling Stone“ in höchsten Tönen gelobt. Rosalía sei der „größte Popkünstler der Gegenwart“ war dort zu lesen.

Aus Zufall ein Star

Ihren seit nunmehr fünf Jahren anhaltenden Erfolg verdankt Rosalía eigentlich dem puren Zufall. Nördlich von Barcelona aufgewachsen, war Flamenco nicht gerade ihr Ding. In einem Park aber hörte sie eines Tages einen Gesang, der sie umwarf. Er stammte von Camarón de la Isla, dem berühmten Flamenco-Sänger und musikalischen Partner von Paco de Lucía. Der Zeitung El Mundo erzählte sie, das habe ihr ein Gefühl vermittelt, als sei ihr „Kopf explodiert“. Ab da wollte der Teenager sein ganzes Wesen in die Praxis des Flamenco stecken.

Wohl nicht ganz zufällig weiß Flamenco-Expertin Susanne Zellinger von einer anderen Anekdote, in der Camarón eine Rolle spielt. Mick Jagger sei einmal in einem Hotel aufgetaucht, in dem der spanische Kollege abgestiegen war. Sein Begehren: Jagger wollte seine Unterhose gegen die des genialen Flamenco-Sängers tauschen, damit etwas von seiner Gabe auf ihn abfärbe.

Rosalía könnte womöglich von ähnlichen Erlebnissen berichten. Immerhin wird die trotz aller Prominenz herzerfrischend natürlich gebliebene Sängerin von Stars wie dem Singer-Songwriter James Blake, Rapperin Cardi B. oder Überflieger Bad Bunny zu musikalischen Kooperationen gebeten.

Mehr als das, sie produzierte auch schon Songs mit Billie Eilish, Dua Lipa und Pharrell. Erste Fühler ins Filmgeschäft hat sie ebenso ausgestreckt. Im Drama „Leid und Herrlichkeit“ ihres Landsmannes Pedro Almodóvar gab sie vor drei Jahren ihr Schauspieldebüt. Auch in ihren zahlreichen Musikvideos zeigt Rosalía, wozu sie fähig ist.

Im Video „Chicken Teriyaki“ rockt sie mit Punk-Attitüde eine biedere Bauch-Beine-Po-Fitnessstunde. Im Video zu „Saoko“ flieht sie – inklusive halsbrecherischer Stunts – mit einer weiblichen Motorradgang vor der Polizei. Gemeinsam wurden diese aufwendigen Musikfilme auf YouTube bereits mehr als 70 Millionen Mal aufgerufen.

Neben ihren Landsleuten sprechen vor allem Menschen in Mittel- und Südamerika Spanisch. Insgesamt ergibt das eine halbe Milliarde. Sind nur ein paar davon gewillt, sich wie Rosalía über Traditionen hinwegzusetzen, steht ihrer weiteren internationalen Karriere nichts im Weg.

Stars des Flamenco

Jahrzehnte lang ging es im Flamenco nach dem Schema F: Es wird in die Hände geklatscht und in die Saiten gehaut, Tänzer steigern sich in einen geradezu ekstatischen Zustand  und Sänger sowie Sängerinnen wehklagen. Schon in den späten  1960er-Jahren wollte Gitarrist Paco de Lucía mehr aus der alten Volksmusik machen, er experimentierte etwa mit Jazzmusikern. Oder Sänger Camarón de la Isla. Er wird in Spanien bis heute als Nationalheld gefeiert. Er nahm seine Alben unter anderen mit Sitarspielern oder dem Royal Philharmonic Orchestra auf. An seinem Begräbnis im Jahr 1992  nahmen  100.000 Trauernde teil. Der 1967 geborene Vicente Amigo nahm schon Stücke mit dem Popmusiker Sting auf und kombinierte Flamenco mit Celtic Folk.

©EPA/MARCIAL GUILLEN

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