Rolling Stones: Feuchte Steine im Keller
Vor 50 Jahren erschien der Klassiker "Exile On Main Street". Ab Juni ist die Band auf Europa-Tour, am 15. Juli in Wien
Wenn Rockstars in den Keller gehen, dann kann das zwei Gründe haben. Entweder, sie suchen Kartoffeln, Zwiebeln oder härtere Drogen. Oder sie suchen Inspiration, den Weg zurück, den typischen Proberaum-Geruch, eine Mischung aus Schimmel, Schweiß und Zigarettenrauch.
Als die Rolling Stones im Sommer 1971 in den Keller gingen, fanden sie beides. Dabei hatten sie zunächst vor allem Zuflucht vor dem britischen Finanzamt gesucht. Daher ließ sich die Band im Steuerexil Südfrankreich nieder.
Und im Keller von Keith Richards’ Mietvilla Nellecôte nahe Nizza richteten sie sich ein Aufnahmestudio ein. Der Keller war feucht von der Luft und vom Bier, die Räume waren eine klangtechnische Katastrophe, die Atmosphäre wird als beklemmend beschrieben, ständig lungerten Dealer im Haus herum. Die Legende berichtet davon, dass eine vorbeiführende Stromleitung illegal angezapft wurde, um das Studio betreiben zu können. Viel mehr Rock ’n’ Roll geht eigentlich nicht.
Trotz all dieser kuriosen Umstände – und trotz der Tatsache, dass die Sessions in erster Linie darin bestanden, darauf zu warten, dass Keith Richards aufwacht – entsteht ein Album, das in den Sagenschatz der Rockmusik eingeht.
Schwül
Am 22. Mai 1972 erscheint „Exile On Main Street“ in den USA, vier Tage später im Rest der Welt. Die Platte – das einzige Studio-Doppelalbum der Stones – erreicht in England und den USA Platz eins der Hitparade, in Deutschland kommt es auf den zweiten Rang. Das Album enthält keinen einzigen großen Hit („Tumbling Dice“ hält sich bis heute in der Live-Setlist). Mick Jagger nannte es in Interviews „überbewertet“ (keine Hits, das hält ein Jagger nicht aus), Keith Richards liebt es (er hält so was sehr gut aus).
Aber die brodelnde, schwül und muffig riechende Atmosphäre, gebaut aus Blues, Soul, Country und Rock, fasziniert heute mehr denn je. „Exile On Main Street“ ist ein beeindruckendes Statement einer Band, die auf der Flucht vor dem Finanzminister versehentlich sich selber findet.
Um mit Anlauf in die Übertreibungsfalle zu springen: Möglicherweise erfanden die Stones mit dem Album den „Low fi“-Trend. Also das Verfertigen von Musik im gemütlichen Selbstbastel-Verfahren. Musik, die sich nicht im Geringsten um die Klangideale der Industrie kümmert und sich daher „ehrlich“ nenen darf.
So sehr wie auf diesem Album klangen die Stones jedenfalls nie wieder nach sich selbst. Hier geht es nicht um Songs, hier geht es um Sound – mehr noch: Um eine ungeheuer charmant zelebrierte Scheiß-mir-nix-Haltung, welche die Stones noch eine Zeitlang davon abhalten sollte, geschmeidige Jet-Set-Imitate ihrer selbst zu werden.
Gruß aus 1977
1977 gelang ihnen dieses Kunststück noch einmal. Am 4. und 5. März spielten sie – Jagger war inzwischen im Hauptjob Promi, Keith Richards freiberufliches Drogenwrack – im El Mocambo Club in Toronto. Vier Songs dieser sagenumwobenen Konzerte landeten auf dem Album „Love You Live“, der Rest verschwand im Nebel der Rock-Mythologie.
Jetzt, 45 Jahre später, ist der komplette Mitschnitt der Show vom 5. März 1977 unter dem Titel „Live At The El Mocambo“ auf CD, Vinyl und Streaming erschienen. Wie immer kann die Realität mit der Legende nicht ganz mithalten, zu hören ist aber ein wunderbar lässig gespieltes Konzert, das an eine öffentliche Probe erinnert. Mick Jagger irrt sehr charmant durch die Texte, die Gitarren krächzen und heulen, und der wunderbare Billy Preston als Gastmusiker taucht die Darbietung tief in den Funk.
Für Fans besonders erfreulich: Zu hören sind nicht nur die Hits und viel Blues, sondern auch damals aktuelle, aber heute fast vergessene Songs wie „Hand Of Fate“, „Dance Little Sister“, „Luxury“ oder „Melody“, außerdem eine sehr frühe Version von „Worried About You“.
Und Stones-Fans dürfen die Geldbörse gleich offenlassen: Am 10. Juni erscheint „Licked Live In NYC“, ein Mitschnitt aus dem Jahr 2003. Damals präsentierte sich die Band in guter Spätform: Zu hören sind die Hits, eine heftige Version von „Can’t You Hear Me Knocking?“, die damals aktuelle Single „Don’t Stop“ (eine hübsche Poprock-Stilübung aus der Feder von Mick Jagger) und Sheryl Crow als hart schuftende Gastsängerin bei „Honky Tonk Woman“.
Jubiläumstour
Im Juli 1962 traten die Rolling Stones – damals noch The Rollin’ Stones – erstmals live auf. Zur Feier des 60-Jahre-Bandjubiläums lassen sich die Herren durch eine Europa-Tournee schieben. Diese startet am 1. Juni in Madrid und macht am 15. Juli im Wiener Happel-Stadion Station. Und ja: Es gibt noch Karten.
Bei ihren Auftritten in den USA im Vorjahr zeigte sich die Band zwar gemütlicher, aber in guter Verfassung. „Ich tue einfach nichts für meinen Körper, was mit Anstrengung zu tun hat“, erklärte der 78-jährige Keith Richards dem Playboy. „Vielleicht sollte ich das lieber. Aber ich fühle mich perfekt so, wie ich bin. Und die Ärzte sagen mir auch, dass alles in Ordnung ist.“
Mick Jagger, der im Juli 79 wird, bastelt bereits an der Setlist und hat die Fans über Social Media (man muss hart daran arbeiten, jung zu bleiben!) aufgefordert, Songwünsche zu äußern.
Jagger kündigt Überraschungen an: „Man braucht eine möglichst große Auswahl an Songs bei den Proben, sodass man nicht jeden Abend dieselben Songs spielen muss. Damit es für die Band nicht langweilig wird.“
Und die bei den Stones seit gut 40 Jahren immer entscheidende Frage: Wie lange noch? „Ich glaube, was ich mache, mache ich, bis ich umfalle“, sagte Keith Richards der dpa (und er weiß, wovon er spricht – er ist oft umgefallen, bei dem, was er tat). „Für mich ist im Moment kein Ende abzusehen.“
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