Romantisch, tragisch, kontrovers: Mythos Meerjungfrau

Sie suchen eine Seele und setzen für die Liebe ihr Schicksal aufs Spiel: Die Fabelwesen beflügeln die Fantasie. Jetzt sorgt die neue Hollywood-Meerjungfrau für Kontroversen.

Die Liebe finden oder sterben. Alles, wirklich alles, das vertraut ist und einen am Leben erhält, aufgeben, nur um geliebt zu werden. Dafür alles auf eine Karte setzen. Liebe oder Tod, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Meerjungfrauen sind die Rockstars der Romantik.

Die Legenden um die Fabelwesen, halb Frau, halb Fisch, setzen seit Jahrhunderten die Fantasie der Menschen in Gang. Bis heute. Das kann schief gehen, wenn wie jüngst Kunstschüler in Apulien auf einem öffentlichen Platz ihre Meerjungfrauen-Statue ausstellen, deren üppige Brust und mächtiges Hinterteil für Empörung sorgen und sie das gerade noch als Body Positivity verkaufen können.

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Das kann süß sein, wenn Fans sich Flossenkostüme anziehen und regelmäßig zum Schwimmen treffen (Mermaiding), wie in Tel Aviv. Oder skurril, wenn Paradiesvögel sich jährlich in schrillen Outfits zur Mermaid-Parade in Coney Island, New York verabreden. Aktuell sorgt die Realverfilmung des Disney-Klassikers „Arielle, die Meerjungfrau“ für Aufregung (siehe Zusatztext am Artikelende). Eine Schwarze als Meerjungfrau, ja darf das sein?

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Sehnsucht nach Seele

Begonnen hat alles im Mittelalter. Undine heißt der halbgöttliche Wassergeist, der einer Sage des oberrheinischen Rittergeschlechts der Staufenberg entstammt und in einem Gedicht um 1320 aufgegriffen wird. Ihr Schicksal: Sie bekommt erst dann eine Seele, wenn sie sich vermählt. Richtig geprägt hat unser Bild aber die „Märchennovelle“ des Romantikers Friedrich de la Motte Fouqué aus dem Jahr 1811, einem der meist gelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts.

Unmögliche Liebe: Illustration von Andersens „Die kleine Meerjungfrau“, von Theodor Hosemann 

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„Undine erlangt darin ihre Seele durch die Liebe eines menschlichen Wesens, ein Ritter, der sie aber mit einer anderen Frau betrügt. Sie tötet ihn mit einem Kuss und kehrt zurück in die Natur“, so die Handlung, weiß Sven Hakon Rossel, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Uni Wien.

Mit der von der „Märchennovelle“ inspirierten „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen wird der Mythos Meerjungfrau endgültig in der westlichen Populärkultur verankert. „Auch Andersens Meerjungfrau sehnt sich nach einer unsterblichen Seele und somit ein Mensch zu werden. Die Seele kann sie nur erhalten, wenn ein menschliches Wesen sich in sie verliebt. Wenn dies nicht gelingt, muss sie sterben“, so Rossel. Ihr Streben endet tragisch.

Den von ihr geliebten irdischen Prinzen rettet sie, als dessen Schiff sturmgebeugt sinkt, vor dem Ertrinken. Um von ihm zurückgeliebt zu werden, lässt sie sich Menschenbeine wachsen, wofür eine Meerhexe ihr einen entsprechenden Trunk mischt. Eine Rückverwandlung: unmöglich.

„Es endet tragisch, da der junge Prinz sie nur als – grob ausgedrückt – Spielzeug behandelt und eine andere Frau heiratet“, weiß Rossel. „Und das, obwohl sie Schmerz und Leid durchlebt, um nicht mehr als Meereswesen zu erscheinen.“

Am Ende löst sie sich in Schaum auf, wird zum Luftgeist – womit sie trotzdem noch zu einer Seele kommen und erlöst werden könnte. Vorausgesetzt: gute Taten.

Was bleibt, ist eine große Liebe, jedoch unerwidert, unerfüllbar, zurückgewiesen. Die Menschwerdung: verunmöglicht. Womit Andersens Märchen auch kein Happy End hat – im Gegensatz zur Disney-Version.

Modernes Märchen: Daryl Hannah kommt 1984 in „Splash – Eine Jungfrau am Haken“ aus Liebe zu Tom Hanks nach New York

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Interpretationen aller Art

Die Geschichte um die Meerjungfrau wird, wie Kerstin Freinschlag in ihrer Diplomarbeit „Das romantische Motiv der Wasserfrau in der Literatur“ abhandelt, höchst detailreich ausgelegt. So wird, aus psychoanalytischer Sicht, etwa der Ödipus-Komplex ins Treffen geführt: Die Meerjungfrau würde im Prinzen den Vater suchen, der wenig für sie übrig hat. Zugleich würde sie so versuchen, den Verlust der Mutter zu kompensieren. An anderer Stelle heißt es, das Märchen könne als der Reifeprozess eines Mädchens zur Frau gedeutet werden – ermöglicht durch den Schmerz einer unerfüllten Liebe.

Auch interessant: der Aspekt, dass die Meerjungfrau dem Idealbild einer Liebe nachjage, das ihr die Sicht auf die Realität verstellt. Kein Opfer, nicht einmal das leidvollste, könne ihr deshalb diesen Traum erfüllen. Auch dass das Märchen die Gegenüberstellung von patriarchalischer und matriarchalischer Gesellschaftsordnung sei, ist zu lesen. Oder die Konfrontation unterschiedlicher Schönheitsideale.

Melusine: mittelalterliche Sagengestalt, in einem kolorierten Holzschnitt von Jost Amman, 1578

©Bildarchiv Hansmann / Interfoto / picturedesk.com

Für Andersen-Experte Rossel symbolisiert die Meerjungfrau die menschliche Sehnsucht, sich durch die Erfahrung echter Liebe zu realisieren. „Eine Sehnsucht, die nicht automatisch ihr Ziel findet, sondern auch in Unglück enden kann.“ Was auch einen biografischen Aspekt bergen könnte, wie Literaturwissenschaftler wissen. Andersens homoerotische Zuneigung zu Edvard Collin blieb unerwidert, aufgrund seiner minderen sozialen Herkunft. Seine wohl größte Liebe, die schwedische Sopranistin Jenny Lind, wies ihn ab und heiratete einen anderen.

Märchenhafte Sex-Fantasie

Für Rossel ist die Meerjungfrau vor allem eine „starke und zielstrebige, aber auch sehnsuchtsvolle Frau, die durch den Zusammenstoß mit der kalten menschlichen Welt nicht überlebt“.

Folke Tegetthoff, der erfolgreichste Märchenerzähler der Gegenwart, sieht etwas anderes: „Für mich ist die Figur der Meerjungfrau primär eine Metapher für die Unterdrückung der Frau.“ Seit Jahrtausenden würden Männer sich nach einem Frauenbild sehnen, das ihrem Willen untertan ist. „Schreckgeweitete Augen und Kiemenöffnungen werden von der männlichen Fantasie ausgeblendet – bleiben dürfen ein wunderschönes, junges Gesicht, wallendes Haar bis zum Po und entblößte Brüste.“

Auch das Symbol der Jungfräulichkeit weise in diese Richtung, so Tegetthoff. „Natürlich muss die Frau noch unberührt von geilen Männerhänden sein.“ Märchen wurden seit jeher eben für Erwachsene erzählt. Dementsprechend „deftig, vulgär und erotisch“ gehe es zu. Meerjungfrauen stehen für den Autor „ganz unverblümt für das Ausleben männlicher sexualisierter Fantasie.“ So könne die Wasserfrau nur von ihrem Fischschwanz befreit werden, indem ein Mann sich ihrer bemächtigt. Umgekehrt sei es nie.

„Märchen bilden ab, was sich in unserer patriarchalischen Gesellschaft an Rollenverhalten manifestiert hat. Zudem widerspiegeln sich in der Meerjungfrau unsere Sehnsucht nach der Urquelle allen Lebens, dem Meer, gekoppelt mit der Urangst des Ertrinkens darin, also des Todes.“ Dem versuchen Menschen zu entrinnen, indem sie hoffen, eine barbusige Schönheit würde sie retten.

Inspiriert hat der Mythos Meerjungfrau jedenfalls viele Künstler. Von Goethe über Oscar Wilde oder E. T. A. Hoffmann bis Ingeborg Bachmann, die versuchte, dem Stoff eine feministische Wendung zu geben. Paul Gauguin malte seine Undine, und in der Zeichentrick-Serie „SpongeBob Schwammkopf“ kommt gar ein „Meerjungmann“ vor.

Wer heute noch an den Mythos glaubt? 2012 sah sich die US-Regierung jedenfalls veranlasst, ihren Bürgern zu versichern, dass Meerjungfrauen nicht existieren. „Kreaturen aus dem Reich der Legenden“, ließ der Nationale Ozean Service wissen. Beweise – blieb sie allerdings schuldig.

Fabelhaftes Fabelwesen: Halle Bailey als Arielle 

©DISNEY/The Walt Disney Company

HOLLYWOOD WIRD DIVERS

Weil gute Geschichten farbenblind sind, spielt in der neuen Verfilmung von „Arielle, die Meerjungfrau“ eine schwarze Schauspielerin die Hauptrolle

Es war im Jahr 1989. Der Zeichentrickfilm „Arielle, die Meerjungfrau“ geriet zum großen Erfolg. Nun läuft am 25. Mai die Realverfilmung des Disney-Klassikers im Kino an. Die Hauptrolle spielt die bereits dreimal Grammy-nominierte Sängerin Halle Bailey. Und die ist keine rothaarige Weiße wie im ersten Streifen, sondern schwarz. 


Im Vorfeld gab es dafür rassistische Reaktionen, in den sozialen Medien empörten Hater sich mit abstrusen Argumenten. „Wenn man das liest, tut es ein bisschen weh“, erklärte Bailey.

Manche sprachen von kultureller Aneignung, Hans Christian Andersen war Däne. Die Filmfirma erklärte: „Dänische Meerjungfrauen können schwarz sein, weil dänische Menschen schwarz sein können.“ Und im Netz zeigten Eltern, wie Kinder sich über eine Heldin freuten, die aussieht wie sie.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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