Wie Jazz aus den Bordellen Storyvilles die Welt erobert

Ein Rotlichtviertel in New Orleans gilt als einer der Geburtsorte des Jazz. Hier wird auch Louis Armstrong groß. Wie wild es hier zugeht.

Tänze so verkommen und hemmungslos, dass der Cancan im Vergleich dazu jungfräulich und wohlanständig erscheint!“ So bestürzt beschreibt ein Reporter der Zeitung „The Daily Picayune“ 1869 die „versifften und schmutzigen“ Dance Halls in New Orleans.

Die Sitten in der Stadt scheinen verfallen zu sein. Prostitution ist ein riesiges Geschäft. Vergnügungssuchende Männer lassen ihr Geld in Bordellen, Stundenhotels, aber auch in Spielhöllen oder beim Hahnenkampf.

Nicht nur der Journalist ist entsetzt, auch die Stadtverwaltung. Sidney Story ist Ratsherr in New Orleans und will, dass sich das ändert. Er reist nach Deutschland und in die Niederlande und sieht sich an, wie dort große Städte Prostitution auf bestimmte Straßenzüge begrenzen. Auf seine Initiative hin verwandelt sich die Gegend nördlich des French Quarters ab 1889 zum Rotlichtviertel.

Es wird nach ihm in Storyville benannt. Ein Name, der ihn nicht glücklich macht. Aber immerhin ist er damit in die Geschichtsbücher eingegangen. Der Ratsherr ist nämlich indirekt an der Entwicklung des Jazz mitverantwortlich.

Musik im Puff

Musik und das verruchte Viertel gehören nämlich von Beginn an zusammen. Töne sind allgegenwärtig. In billigen Etablissements werfen Freier einen Vierteldollar in mechanische Klaviere, wenn sie musikalische Unterhaltung wollen. In gehobeneren Lokalitäten greifen Pianisten, oder Professoren, wie sie hier heißen, in die Tasten.

Und in den luxuriösen Häusern sorgen die „Madams“ – die mächtigen Puffmütter – dafür, dass die Kunden nicht nur von den Prostituierten, sondern auch von den Klängen passionierter Musiker kleiner Ensembles umschmeichelt und animiert werden.

Eine Illustration des Rotlichtviertels, dessen Häuser in den 1930er-Jahren abgerissen werden.

©Wikimedia Commons

Die Bordellchefinnen setzen auch alles daran, dass die Combos ihren Weg in die berüchtigten Blue Books finden. Diese Büchlein liegen überall dort auf, wo viele Männer verkehren – vom Barbier bis zur Bar. Sie sollen durch Storyville führen – hier sind alle Etablissements vertreten, auf den Seiten finden sich auch Steckbriefe der Sex-Arbeiterinnen: Von Garderoben-Vorlieben bis zu Herkunft und Hautfarbe sollen die Freier alles wissen.

Während nur weiße Männer in den Bordellen als Freier erlaubt sind, sind viele, die in Storyville arbeiteten, schwarz: Prostituierte wie Musiker. Im luxuriösesten Haus des Viertels, der Mahogany Hall von Lulu White beginnen viele Jazz-Pioniere wie Jelly Roll Morton (Klavier), King Oliver (Kornett), Freddie Keppard (Trompete) oder Edward Kid Ory (Posaune) ihre Karriere.

Großzügige Rotlicht-Besucher

Wegen der Rassentrennung haben die ausgebildeten Musiker kaum Auftrittsmöglichkeiten – im Puff sind sie willkommen. Das Publikum ist großzügig, feierwillig und aufnahmebereit für Experimentelles.

Der Fotograf E. J. Bellocq lichtet viele Sex-Arbeiterinnen aus Storyville ab – oft präsentieren sie sich auch ziemlich freizügig.  

©Wikimedia Commons/E. J. Bellocq

Aber nicht nur dort gibt es Musik – auch in Musikklubs. Viele dieser „Black and Tans“-Lokale werden von Afroamerikanern betrieben, für Prostituierte und ihre Zuhälter sind sie oft Treffpunkte. Hier spielt man langsamen Blues oder Ragtime, meist aber etwas Schnelles fürs Tanzen. In diesem Umfeld messen sich die Musiker in Wettbewerben und so entstehen neue Stile – nicht unwesentlich für die Entwicklung des New Orleans Jazz. Dort wird auch der Kornettist Buddy Bolden groß.

Er gilt gemeinhin als allererster Bandleader des Jazz. Seine Truppe wird um 1895 gegründet und spielt bei Paraden wie auf Tanzabenden. Schallplattenaufnahmen existieren keine, aber er soll laut und klar gespielt haben. Regelmäßig tritt er mit seinen Kumpanen in der Funky Butt Hall auf, die am Sonntag in eine Baptisten-Kirche umgewandelt wird.

Buddy  Bolden (2. v. li., hinten) ist wie Armstrong Kornettist und gilt als erster Jazz-Bandleader überhaupt.

©Wikimedia Commons/Autor unbekannt

Aus dieser Gegend kommt auch ein Bub, der später zu einem der bekanntesten Vertreter seiner Zunft werden soll: Louis Armstrong. Er wächst unweit der Funky Butt Hall auf, umgeben von viel Musik, aber auch von viel Armut. Wie er sich erinnert „unter Kirchgängern, Spielern, Gaunern, kleinen Zuhältern, Dieben, Prostituierten und einem Haufen Kinder“.

Er ist früh auf sich allein gestellt, stellt viel an und landet in einem Erziehungsheim, wo er das Kornett-Spielen lernt. Später treibt er sich in einschlägigen Lokalen herum. „Man bot mir die Chance, die Musik zu spielen, die ich wirklich spielen wollte. Und das waren alle Arten von Musik, von Jazz bis zu Walzern.“ Dann entdeckt ihn King Oliver – seines Zeichens einer der bedeutendsten Musiker des New Orleans Jazz – und nimmt ihn unter seine Fittiche.

Beinahe alle Mitglieder der King Oliver's Creole Jazz Band – hier auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1923 – verdienen ihre Sporen im Viertel.

©mauritius images / Science Source / New York Public Library/Science Source / New York Public Library/mauritius images

Bald leitet Armstrong auch selbst eine eigene Band. In einer Rückschau erzählt er einmal: „Das Viertel sperrte nie zu. Es gab immer irgendwo Action – und das rund um die Uhr. Man muss sich das vorstellen – innerhalb 24 Stunden konntest du die besten Musiker überhaupt hören.“

Die Begeisterung fürs Viertel zeigt er auch noch anders: Mit der Aufnahme des Jazzstandards „Mahogany Hall Stomp“ von Spencer Williams setzt Armstrong dem bekanntesten Bordell ein Denkmal.

Die Mahogany Hall hat einen Spiegelsaal und 15 luxuriöse Schlafzimmer mit Bad – inklusive warmem Wasser. Betreiberin ist Lulu White, eine resolute, berühmt-berüchtigte „Madam“ mit beachtlichem Vorstrafenregister. Sie schenkt gerne Alkohol ohne entsprechende Lizenz aus oder wird schon einmal handgreiflich, wenn sie ihr Geschäft in Gefahr sieht.

Aber sie ist auch mit einer gehörigen Portion Marketingtalent ausgestattet. Die Dame prangt als Porträt auf einem Buntglasfenster über dem Eingang zum Puff und gibt eigene Bücher über ihr Bordell heraus. Und sie widersetzt sich der Rassentrennung. In Mahogany Hall verkaufen – als einzigem Etablissement der Stadt – schwarze und weiße Frauen ihren Körper sowie jene, die wie White einen schwarzen und einen weißen Elternteil haben. Lulu White wird zu einer der ersten schwarzen Selfmade-Millionärin der Jahrhundertwende.

Lulu Whites Bordell Mahogany Hall war berüchtigt und luxuriös.

©Wikimedia Commons

Und auch wenn Ausbeutung und andere unerfreuliche Dinge herrschen – das Viertel Storyville gilt in den 20 Jahren seines Bestehens durchaus als Erfolg. Die hygienischen Zustände waren besser als zuvor. Und wie die WDR-Sendung ZeitZeichen einmal berichtete, geht nach Recherchen des Jazz-Historikers Al Rose die Zahl der Prostituierten in Storyville allein in den ersten zehn Jahren seit seiner Gründung von etwa 2.000 um mehr als die Hälfte zurück. Doch mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im April 1917 wird das Viertel geschlossen.

Marine will Moral

New Orleans ist für die Marine als Hafenstadt wichtig. Das Militär verfolgt strenge Sitten, fürchtet um die Moral und Gesundheit der Truppen. Vier Soldaten kommen bei Schießereien ums Leben. Daher verfügen Verteidigungs- und Marineministerium, dass es fünf Meilen um Marinestützpunkte keine Bordelle geben darf.

Ein Werbeplakat für einen Ball während Mardi Gras. 

©Wikimedia Commons/C.C.C. Club and Two Well Known Gentlemen

Die Stadtverwaltung wehrt sich, doch es nützt nichts. Ab 12. November 1917 ist es mit dem wilden Treiben vorbei. Die Prostitution ufert wieder unkontrolliert aus. Die Musiker aus den Bordellen und Klubs verlieren ihre Auftrittsorte und ziehen weiter nach New York und Chicago. Von dort verbreitet sich der Jazz auf die USA und weiter auf der ganzen Welt.

Vom ehemaligen verruchten Viertel in New Orleans ist heute kaum etwas übrig. Die meisten Gebäude weichen in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre Sozialbauten.

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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